«Können wir bitte mal aufhören und reden?»

Sivan Ben Yishais neues Stück «Wounds Are Forever» (der Stückabdruck liegt diesem Heft bei) ist ein wilder Ritt durch die Geschichte und zugleich ein Konzert verschiedener Stimmen. Ein Gespräch über die politischen Implikationen ihres Schreibens

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Eva Behrendt Die Protagonistin von «Wounds Are Forever» heißt Sivan Ben Yishai. Was für ein Zufall! 
Sivan Ben Yishai Die Sivan Ben Yishai im Stück ist so etwas wie eine Ur-Jüdin, eine Superprotagonistin. Sie kann Autorin sein oder Kämpferin, ein Zug oder ein Flugzeug, sie lebt über Generationen und scheint praktisch unsterblich. Sie ist der Körper, der das Stimmenkaleidoskop, in das sich der Text auffächert, zusammenhält.

In allen meinen Theatertexten gibt es dieses Phänomen der vielen Stimmen, die sich sozusagen im Raum des Selbst versammeln und heftig miteinander diskutieren. Ich glaube, ich habe sie hauptsächlich ‹Sivan› genannt, um mit all den Projektionen zu spielen, die mit dieser Entscheidung einhergehen, aber auch, um die engen Grenzen eines Selbsts zu überschreiten. Arundhati Roy hat mal gesagt, dass Journalisten sich zwar sehr für ihr Privatleben interessieren, aber für gewöhnlich mit allen Details falschliegen. Ich erledige das gleich selbst, indem ich mit den Fakten meines Lebens und mit den Annahmen spiele, die andere womöglich über mich haben. 

EB Die Figur Sivan Ben Yishai wandert aus und kehrt zurück, dabei gerät sie an die unterschiedlichsten Orte und wird Teil von historischen Ereignissen und Prozessen der letzten hundert Jahre: Sie tötet im Versteck vor den Nazis ihr Neugeborenes, versucht 1939 auf der St. Lewis  nach Amerika zu entkommen, wird in den sibirischen Wäldern zur Widerstandskämpferin, sie durchschwimmt das Mittelmeer und geht in «Falastin», Palästina, wieder an Land. Was für einen Begriff von Geschichte vertritt die Sivan in «Wounds Are Forever»? 
Ben Yishai In der jüdischen Welt gibt es so viele verschiedene Gemeinden und Perspektiven. Ich bin in Israel-Palästina geboren, aber natürlich gibt es auch unzählige jüdische Geschichten aus Amerika, Afrika, Russland, Europa. Sivan repräsentiert also nicht «die» jüdische Geschichte, sondern nur ein paar davon. Auch ihr Storytelling ist zeitlich begrenzt auf das letzte Jahrhundert jüdisch-europäischer Geschichte. Ich habe sogar versucht, bestimmten Geschichten, indem ich sie weglasse, eine größere Bedeutung zu geben. So kommen zum Beispiel die sowjetischen Nachthexen vor, aber keine Konzentrationslager. Es gibt die Irrfahrt des Auswandererschiffs St. Lewis, aber nicht die Geschichte der äthiopischen, marokkanischen oder jemenitischen Juden und Jüdinnen zur selben Zeit, die für Israel große Bedeutung hatte – etwa für meine Familie, die zur Hälfte aus Europa, zur Hälfte aus Jemen kommt. Sivan selbst zeigt sich in einem historischen Ereignis nach dem anderen, verwandelt sich vom Opfer zur Täterin und wieder zurück. Manchmal wendet sie sich gegen den Blick der anderen auf sie, manchmal gegen die israelische Perspektive ihrer Eltern, manchmal gegen sich selbst. 

EB Ihre Geschichte wird von verschiedenen Stimmen, darunter auch die der frechen «Sternchenkommentare», erzählt, ergänzt und in Frage gestellt … 
Ben Yishai Bis jetzt war der Ausgangspunkt all meiner Arbeiten die Perspektive der Autorin. Der Vorgang des Schreibens, zu dem auch das Umschreiben, Korrigieren und Löschen gehört, wirft fortdauernd politische Fragen auf: Wer erzählt unsere Geschichten? Sind es «unsere» Geschichten? Wer sind «wir»? Ein Schreiben, das eher politisch als privat motiviert ist, steht von vornherein einer Geschichte gegenüber, die von den Siegern geschrieben wurde, von Männern, von Gruppen, die die Macht, das Privileg und den sozialen Status hatten. Deshalb erhellt und verändert es unsere üblichen Lesarten der Welt, wenn wir den Prozess des Schreibens und Geschichte Erzählens selbst reflektieren.

EB Diese Stimmen sagen zum Beispiel: «Es liegt so viel Gewalt/in der Konstruktion eines einzigen Plots» oder: «Aber was ist eine Geschichte? Eine weitere gottverdammte Form von Tourismus». Wie kann man den Fallen des Geschichtenschreibens, die letztlich auch die der Geschichtsschreibung sind, entkommen? 
Ben Yishai Gestern hat Sasha Marianna Salzmann den schönen Satz zu mir gesagt: «In Deinen Texten ist der Plot der Täter.» Einer der Stränge meiner Arbeit ist immer dem Ort meiner Herkunft und seinen politischen Konflikten gewidmet, der wiederum mit dem zweiten Strang verbunden ist, dem Ort, an dem ich jetzt lebe. Aber wenn der Plot der Täter ist, dann ist das Storytelling ein Akt der Gewalt. Ich habe ein, zwei oder fünf Narrative vom verzweigten Baum der jüdischen Geschichte ausgewählt, was schon den unverzeihlichen Ausschluss vieler anderer impliziert. Wie gehen wir als Geschichtenerzähler*innen damit um? Dass ich Sivan erlaube, sich immer wieder zu verwandeln, hat mir sehr geholfen, damit performativ umzugehen.

EB Hinzu kommt, dass es in Ihrem Text vor Verweisen auf weitere Geschichten wimmelt. 
Ben Yishai Keine Geschichte steht für sich allein, das heißt auch, das Geschichten Netzwerke bilden und wir auf den Geschichten anderer Autor*innen aufbauen können. Deshalb gibt es im Stück so viele Fußnoten – sie sind Aufrufe an die Leser*innen, die von mir verwendeten Quellen selbst zu recherchieren und die Geschichte ihrerseits weiterzulernen.

EB Das sowjetische «Nachthexen»-Regiment, ein rein weibliches Nachtbombergeschwader im Zweiten Weltkrieg, kannte ich bislang noch gar nicht! 
Ben Yishai Außerdem ist es vielleicht interessanter, horizontal zu erzählen und nicht immer vertikal. Damit meine ich, ein Ereignis mit einer Fülle von Stimmen zu beleuchten, statt viele Ereignisse aus einer dominanten Perspektive. Normalerweise schreibe ich weder Handlung noch Figuren, das interessiert mich gar nicht so sehr und kollidiert auch mit dem horizontalen Storytelling, das im Zentrum meiner Forschung steht. Diesmal habe ich es sogar regelrecht genossen, Sivan wie wild durch Raum und Zeit zu jagen. Allerdings unter der Voraussetzung, dass diesem «Mega-Plot» auch kritische Stimmen mit poetologischen Überlegungen gegenüberstehen, die so das Stück wieder in die Horizontale rücken.

EB Rein optisch habe ich den Eindruck, dass sich ein beträchtlicher Teil des Theaters bereits im Schriftbild von «Wounds Are Forever» abspielt. Es ist geradezu eine Performance der Typografien und Schriftsprachen, die da auf dem Papier stattfindet. 
Ben Yishai Ja, ich versuche tatsächlich immer, schon das Papier oder die Bildschirmseite als Bühne zu betrachten. Oder als Arena, das trifft es eigentlich noch besser. Immerhin war ich 14 Jahre lang in Israel Regisseurin, habe selbst auf der Bühne gestanden, Bühnenbild, Kostüme, Dramaturgie gemacht: In meiner Vorstellung sind meine Texte auch Theateraufführungen bzw. sie sind so geschrieben, dass sich die Aufführung idealerweise schon beim Lesen einstellt. Ich habe ziemlich lange an «Wounds Are Forever» geschrieben, anderthalb bis zwei Jahre, und habe es während des ersten Lockdowns im letzten Frühjahr beendet. Diese Phase gab mir noch mal einen letzten Schub, und die Idee, den Text schon auf dem Papier, als noch ohne die dreidimensionale Bühne, so theatral wie möglich erscheinen zu lassen, machte natürlich unter Pandemiebedingungen noch mehr Sinn. 

EB Die Sivan in «Wounds Are Forever» bewegt sich in großen historischen Sprüngen im Dreieck von Israel, Deutschland und Palästina. Sie selbst haben gerade erwähnt, dass Ihr Schreiben sich immer auf dieses Dreieck bezieht. Wie erleben Sie es hier in Ihrem Berliner Alltag? 
Ben Yishai Kennen Sie Ta-Nehisi Coates Buch «Between the world and me»? Darin erklärt der Autor seinem Sohn, was es für ihn bedeutet, Vater eines Schwarzen Jungen in der USA zu sein. In der Eingangsszene fragt ihn eine weiße Moderatorin, wie es sich für ihn anfühlt, im progressiven weißen Amerika zu leben. Und dann schreibt er, dass so viele unglaublich kluge Menschen ihn beständig nach dem Zustand seines Körpers fragen und nicht einmal verstehen, was sie da tun, und was es bedeutet. Ohne direkt vergleichen zu wollen, würde ich sagen, dass ich dem deutschen Diskurs über Israel und über meinen Körper meine eigene Erfahrung und die meiner Vorfahren entgegenzustellen versuche, sowie durch die Aufforderung an die deutsche Seite, meine Geschichte und meinen Körper nicht zu «konsumieren» und mir lieber auf halbem Wege entgegenzukommen, etwa in einem Text wie «Wounds Are Forever». 

EB Auch auf die Gefahr hin, selbst in die Körperfalle zu tappen: Wie wirkt dieser deutsche Diskurs auf Sie? 
Ben Yishai Ich lebe zwischen den Konflikten, zwischen den Perspektiven. Und ich lebe in einem Land, in dem diese Konflikte und Perspektiven wieder und wieder in Frage gestellt werden. Einerseits gibt es Diskurse wie die Debatte um BDS, mit dem Ergebnis, dass Kritik an Israel offiziell verboten wird. Und auf der anderen Seite gibt es Halle und den Halle-Prozess, in dem Zeugen unwidersprochen rassistische Sprache reproduzieren. Ich versuche, schreibend durch das ganze Spektrum von Geschichten zu gehen: Geschichten über Antisemitismus in Deutschland, aber auch über Besatzung und Krieg in Israel-Palästina. Geschichten über meine Vorfahren, die in der Shoah ermordet wurden, und zugleich über illegale Siedlungen und das Schweigen in Den Haag. Es ist tragisch, dass diese Momente der Geschichte Rücken an Rücken stehen, aber vermutlich tun sie das immer. Ich lebe hier jetzt seit neun Jahren und muss mir von deutschen Männern sagen lassen, wie ich Kritik an meinen Herkunftsort üben soll. Ich werde als politische Künstlerin ermahnt, auf meine Sprache zu achten, weil ich sonst womöglich des Antisemitismus bezichtigt werde. Von deutschen Männern! Was tun? Wie wäre es, überhaupt anzuerkennen, dass es eine Vielfalt von Positionen und Perspektiven auf den Konflikt gibt? Mit «Wounds Are Forever» wollte ich diese Widersprüche sichtbar machen. So wie die tote Klezmerin immer wieder sagt: «Können wir bitte mal aufhören und reden?» 

EB Sie haben gerade kurz die US-Politik erwähnt. Donald Trump hat sich ja damit gebrüstet, den definitiven Friedensplan für den Nahen Osten zu entwerfen, tatsächlich hat er ein Abkommen zwischen den Arabischen Emiraten und Israel gestiftet. Was ist davon zu halten? 
Ben Yishai Nur als Beispiel: Ein Detail, das in den Medien nicht genug diskutiert wurde, war, dass die USA im Gegenzug zur Unterzeichnung dieses «Friedensplans» durch Marokko zugestimmt haben, die marokkanische Souveränität über ein Gebiet in der Westsahara anzuerkennen, in dem die lokale Bevölkerung seit den 1970er Jahren für Selbstbestimmung kämpft. Es ist ein bitterer Witz, wenn man an den Annexionsplan von Trump und Nethanjahu in Palästina-Israel vor nur einem Jahr denkt. Diese beiden Politiker schienen mehr damit beschäftigt zu sein, ihre eigenen Positionen in ihren Ländern zu sichern, als an einem Friedensplan zu arbeiten. Wenn man bedenkt, dass die palästinensische Perspektive und die palästinensischen Forderungen während des gesamten Prozesses beiseite geschoben und zum Schweigen gebracht wurden, sieht das Ganze nur wie ein zynischer Businessplan aus. 

EB Tatsächlich hat man den Eindruck, dass in der deutschen Debatte um BDS jüdische Stimmen und erst recht linke jüdische Stimmen eher im Hintergrund stehen. «Wounds» ist sicher auch eine Antwort darauf. Im Stück sind es vor allem die Eltern, die entsetzt darüber sind, das Sivan ausgerechnet in Deutschland israelkritische Theaterstücke schreiben und sich auch noch dafür bezahlen lässt. Gibt es da einen Zusammenhang? 
Ben Yishai Ich merke immer wieder, dass Migrant*innen und Geflüchtete einen grundlegenden menschlichen Konflikt verkörpern: Es gibt niemanden auf dieser Welt, der ausschließlich in einer Story lebt, oder eine einzige  Identität hat. In dem ich Sivan zwischen den «israelischen» Blick ihrer Eltern und den «deutschen» Blick des Mannheimer Publikums stelle, kann ich den Zusammenprall beschreiben, der die Welt jede*r Einwanderer*in prägt, aber auch die meisten politischen und kulturellen Konflikte. Was in Deutschland auf die eine Art diskutiert wird, würde in Israel oder Palästina genau andersrum diskutiert werden. Das Tragische, aber auch irre Komische daran ist, dass keine von beiden Seiten sich wirklich der Details und der Schattierung des jeweils anderen Diskurses bewusst ist. Auch deshalb halte ich es für eine immensen gesellschaftlichen Gewinn, wenn Migrant*innen über die verblüffende Erfahrung schreiben, diesen Diskurs in 3D zu sehen, aus drei Perspektiven. 

EB Sivan, die Protagonistin, nimmt mehrere Anläufe, um ihr Verhältnis zu Palästina zu erzählen – und scheitert. Hat sich im Laufe Ihres Lebens Ihre Haltung zum Israel-Palästina-Konflikt verändert? 
Ben Yishai Ich würde die Frage gern wieder mit dem Stück beantworten, in dem es drei Versuche gibt, die Geschichte Palästinas zu erzählen – aber keinen, tatsächlich Konflikte zu lösen. Mehr als Geschichten erzählen, wieder und wieder, kann ich als Autorin nicht tun. Wenn ich an Israel-Palästina denke, aber auch an die US-Politik, dann sehe ich, dass diese Politik auf Verleugnung setzt, auf Auslöschung von Geschichten. Es gibt ein Zitat des palästinensischen Dichters Mourid Barghouti: «If you want to dispossess a people, the simplest way to do it is to tell their story and to start with ‹secondly›.» Du kannst beispielsweise über Tanzania als eines der ärmsten Länder der Welt sprechen, ohne die deutsche Kolonialherrschaft zu erwähnen – und schon hast Du die Leute um ihre Geschichte betrogen. Dasselbe gilt für Israel-Palästina. Auch Sivan scheitert immer wieder, weil jeder Versuch sich als Übergriff erweist. Und mir erging es nicht anders, denn ich bin nicht der Körper, der die palästinensische Geschichte aufschreiben sollte. Aber was dann? Das Stück abbrechen, aufhören zu schreiben, ignorieren? Letztlich habe ich diese Sackgasse einfach benutzt: Es ist dann eben nicht die Geschichte Palästinas, sondern die der Protagonistin Sivan, die versucht, die Geschichte Palästinas zu erzählen und dabei mit allen Fehlern umgeht, die sie auf dem Weg macht. 

EB Ist das Anhören der Geschichten der anderen ein erster Schritt auf dem Weg zu einer Lösung? 
Ben Yishai Es gibt in Israel eine NGO namens «Zochrot:», «Erinnern», die seit 10 Jahren einen unglaublichen Job macht, in dem sie immer wieder vor der israelischen Gesellschaft die palästinensischen Narrative in Bezug auf Gegenwart und Vergangenheit ausspricht. An jedem Feierund Erinnerungstag, immer dann, wenn die Israelis zusammenkommen, um sich ihrer eigenen Geschichte zu vergewissern, erzählen die Aktivist*innen diese parallelen Geschichten. Das ist es doch, was wir eigentlich meinen, wenn wir, zum Beispiel im Theater, von Inklusion sprechen. Es geht nicht darum, Momente in der Geschichte gegeneinander aufzuwiegen. Wie es im Stück heißt: «Beware, beware, never compare!» Und doch, das «Blut reimt sich». Selbst wenn man die Ereignisse in Palästina nicht mit dem Holocaust vergleicht, sieht man, dass Israel und Palästina nebeneinandersitzen, Seite an Seite in Zeit und Raum, und ihre Geschichten erzählt werden müssen. Deshalb sind Literatur, Theater und Kunst so notwendig für die Gesellschaft. Und Theater, das nur eine Geschichte erzählt, ist letztlich uninteressant. 

EB Aber wie überwindet man die Abwehr, überhaupt den Geschichten der anderen zuzuhören? Vielen fällt es schwer, weil sie sich dann beispielweise auf der Seite der Täter verorten müssen.
Ben Yishai Chimamanda Ngozi Adichie spricht in ihrem Vortrag «The danger of a single story» über Literatur als eine Kunst, die in einem spezifischen Verhältnis zur Macht steht. Wie viele Perspektiven und Erzählungen gibt es über Israel und wie viele über das Leben in Palästina? Wie viele palästinensische Geschichten, die sich voneinander unterscheiden, wie viele Stimmen, die miteinander kollidieren, können wir zählen? Hier kommen wir zum Kern des Kampfes um Diversität: Es geht nicht nur um eine demonstrative Geste, alte Geschichte zugunsten neuer zu verdrängen. Sondern darum, dass das Publikum möglichst vielen verschiedenen Subjekten im Theater zuhören, dass es Empathie für ganz unterschiedliche Sichtweisen entwickeln und Parallelen ziehen kann zwischen «uns» und «ihnen». Und klar, «Wounds Are Forever» ist in dieser Hinsicht eine tickende Bombe. Warum emigriert Sivan ausgerechnet im Jahr 1938 nach Deutschland? Warum beginnt das Stück mit der verbrannten Leiche des 16-jährigen Muhammad Abu Khdeir? Später fragt eine der Stimmen im Stück: «Tauchen in diesem Stück überhaupt Palästinenser auf oder begegnen wir ihnen nur als Leichen, evakuiert oder vertrieben?» Natürlich sind das keine zufälligen, sondern politische und ästhetische Entscheidungen, die mich an einer bestimmten Stelle im Diskurs verorten. 

EB Ist in der Nische Theater die Bereitschaft höher als anderswo, sich auf Sichtweisen einzulassen, die nicht den eigenen entsprechen? 
Ben Yishai Ich bin davon überzeugt, dass wir – ob als Intendantinnen, Autorinnen, Schauspieler- oder Technikerinnen – im Theater mit demselben Selbstbewusstein handeln sollten, als würden wir für eine Mainstream-Plattform wie Netflix arbeiten. Wir sollten davon ausgehen, dass alle Augen auf uns liegen und darauf, wie wir Veränderung herbeiführen, wie wir uns gegenseitig behandeln. Wir sollten uns als Modell für eine andere, diversere, feministischere Gesellschaft begreifen. Was sind beispielsweise unsere Richtlinien als Institutionen in Bezug auf den Klimawandel? Wie reagieren wir als Wirtschaftszweig darauf? Fordern wir Verhaltensänderungen nur auf der Bühne ein oder praktizieren wir sie auch selber? 

EB Wie schon viele andere Ihrer Theatertexte hat die Lyrikerin Maren Kames auch «Wounds Are Forever» aus dem Englischen übersetzt. Es ist beeindruckend, wie elegant auch in der Übersetzung verschiedene Sprachen ineinander greifen, wie rhythmisch geschmeidig der Text ist. Wie arbeiten Sie zusammen? 
Ben Yishai Maren arbeitet seit meinem dritten Bühnenstück «Papa liebt Dich» als Übersetzerin meiner Stücke, und wir sind darüber eng zusammengewachsen. «Wounds Are Forever» ist natürlich sprachlich das reinste Minenfeld, da gab es sehr viele Entscheidungen zu treffen. Gerade im Deutschen gibt es viele Ecken, die man einfach nicht betreten kann. Was beispielsweise macht man mit «Good morning, jews!»? «Guten Morgen Juden!»?? Sasha Salzmann hat das sehr lustig formuliert: «Jew sounds fun, Jude klingt nach Leiche!» Nachdem Maren das ganze Stück übersetzt hatte, sind wir bei brütender Hochsommerhitze an sieben Tagen acht Stunden täglich in zwei verschiedenen Städten über unseren Rechnern gezoomt und den Text Satz für Satz und Wort für Wort nochmal gemeinsam durchgegangen. Nur jemand wie Maren, die sich der Arbeit an der Sprache derart verschrieben hat, ist dazu fähig. Denn es geht um mehr als eine Übersetzung, es musste eine bestimmte Textur vom Stimmen und Sprachen entstehen, und diese Textur ist komplett politisch. Vor allem in Bezug auf die tote Klezmerin, die mir besonders wichtig ist, weil ihre Stimme, in der Arabisch und Hebräisch, Englisch und Deutsch miteinander verwoben sind, eine ganz bestimmte Verletzlichkeit und Empathie transportiert. Maren ist dabei so genau und skrupulös, dass ich fast noch mehr an der deutschen Übersetzung hänge als am Original.

Die Uraufführung von «Wounds Are Forever» am Nationaltheater Mannheim wurde vorerst auf Mitte Juni 2021 verschoben.


Theater heute März 2021
Rubrik: Das Stück, Seite 44
von Eva Behrendt

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