Gründeln an der Oberfläche
Die deutsche Mittelschicht hat schon bessere Tage erlebt. Anton Jella von der Wohnung ganz oben, 40 Jahre lang Kassierer bei der Sparkasse, hat sich umgebracht. Vorher durfte er noch ein paar Wochen den Kunden an den Bankautomaten helfen, nachdem sein Job gestrichen wurde. Architektin Elly (Philine Bührer) ist arbeitslos und redet sich das als neue Chance zur Selbstständigkeit schön.
Mutter Baya (Katharina Brenner) hat einen nekrotischen Fuß, tyrannisiert als Pflegefall ihre Tochter Sonja (Clara Kroneck), einstige Lehrerin für Geschichte und Mathematik, derzeit suspendiert – vermutlich, weil sie mit den Schülern nicht zurechtkam. Die Geschäfte von Versicherungsmakler Säm (Ansgar Sauren) laufen derzeit ziemlich mies; was früher mal gut kalkulierbare Risiken waren, kann heute keiner mehr so richtig einschätzen. Die Beziehung zu seiner langjährigen Partnerin Ada (Marie-Paulina Schendel) versandet derweil in prekärer Gleichgültigkeit.
Erwischt hat es auch den Außenhandelskaufmann Ellrot (Florian Walter), der immer von Schwierigkeiten mit den Lieferketten redet und sich offenbar in der Wohnung seiner Mutter verschanzt hat, die schon länger niemand mehr zu Gesicht bekommen hat. Der ...
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Theater heute August/September 2022
Rubrik: Chronik, Seite 56
von Franz Wille
Da war wohl noch eine Rechnung offen. Regisseurin Karin Henkel nimmt sich schon zum zweiten Mal Bernhards «Auslöschung» vor, diesmal aber gründlich. Beim ersten Mal, Anfang 2019 im Hamburger Schauspielhaus, war der 600-Seiten-Roman von 1986 noch eingebettet in eine Textcollage mit den Stücken «Vor dem Ruhestand» und «Ritter Dene Voss». Jetzt, nur drei Jahre später...
Theater heute Vor einem Jahr ging es der Freien Szene so gut wie selten zuvor, zumindest in finanzieller Hinsicht. Das vom Fonds Darstellende Künste aufgelegte und vom Bund geförderte #TakeThat bzw. #TakeHeart-Corona-Rettungsprogramm war mit 125 Millionen Euro ausgestattet worden, die zur Verteilung anstanden. Das klingt erstmal nach sehr viel Geld, entspricht aber...
Zum Beispiel das Kraftwerk Bille. Das liegt in Hammerbrook, im industriellen Hamburger Osten weitab von kultureller Infrastruktur und ÖPNV, ein riesiges, verwinkeltes Fabrikensemble aus dem späten 19. Jahrhundert, das seit dem Ende des Kraftwerksbetriebs weitgehend leersteht. Manchmal bespielt die freie Theaterszene hier Räume, allerdings auf eher prekärem Niveau:...