Ein feiner nationalistischer Nebel
Am 29. Mai projiziert «The Sun» in riesigen Lettern triumphierend in Richtung Kontinent auf Dovers weiße Felsen «Dover & Out». Die Regierung in Westminster überlegt, «as a clear statement that Britain is back», die Reisepassfarbe vom jahrelangen Burgunderrot zurück zum britischen Blau zu ändern. Der «Guardian» entdeckt einen allgemeinen insularen «bring-backery»-Trend im Zuge einer neuen Nationalbegeisterung.
Theresa May hat auf ihr «Brexit»-Knöpfchen gedrückt und Großbritannien in den freien Fall katapultiert.
Der, sollte man annehmen, für 52 Prozent der Wähler einen Sprung in die Freiheit, aber für immer noch 48 Prozent eine Bruchlandung in Zeitlupe bedeutet. Oder verschieben sich diese Verhältnisse langsam? Zumindest werden die 52 Prozent lauter, die 48 Prozent immer leiser. Gab es direkt nach der Wahl noch passionierte Diskussionen ums Für und Wider, mit ausführlichen Analysen auch der Nachteile, die auf die Insel zukommen könnten, scheint man, seit Frau May ihren Brief mit einem theatral-thatcheresken «there is no turning back» bei der EU abgegeben hat, vor allem damit beschäftigt, die Hacken in den Mutterboden zu stemmen und den «best deal for Britain» zu verlangen: Nationalismus schafft mehr Nationalismus.
Dazu tragen subtile linguistische Akzente bei wie die Tatsache, dass die Freunde des EU-Ausstiegs im allgemeinen Sprachgebrauch «Brexiteers» heißen, in Anlehnung an die tapferen «Musketeers», also Musketiere, während man die «remainer» nun «remoaner» nennt, die gefälligst aufhören sollen zu maulen. Und wer es nicht tut, dem wird vorgehalten, ein schlechter Verlierer zu sein und aufs ur-englische «fair play» gepocht – auch wenn man sich daran während des Wahlkampfes nicht allzu streng gehalten hat. Na, Schwamm drüber.
Nationsmutter Theresa selber, die ja vor dem Referendum auch des Öfteren strahlend neben «Remain»-Plakaten fotografiert wurde, redete in den letzten Wochen übereifrig von einem unbedingt wünschenswerten «hard Brexit», für den technisch eigentlich keiner gestimmt hat, den aber die konservativen Kräfte in ihrer Partei und der Presse begeistert beklatschen.
Und sogar bei der eigentlich schwer auf Balance bedachten BBC hört man nun oft einen brexitgeneigten «keep calm and carry on»-Unterton. Die Chefetage, sagte die «Now Show», habe die Parole ausgegeben, dass nun, wo Artikel 50 auf den Weg gebracht sei, eine positive Haltung dazu erwartet werde. Mal legt eine Moderatorin ihrem Interviewgast ein «Machen wir also das Beste draus» in den Mund, mal lässt eine seriöse Nachrichtensendung am Tag, an dem der Austrittsbrief überreicht wird, eine Reihe ausschließlich Brexit-glücklicher Menschen ihre Begeisterung in den Äther jubeln. So trompetete ein Waliser Bauer «I’m happy to trade with Europe, but I want to be free!» Das wurde an undifferenzierter Abneigung einen Tag später überboten vom Tory-Parlamentarier Christopher Chope, der den Brexit-Minister David Davis fragte: «Can I thank my right honourable friend for making it clear that two years from today our sovereign parliament will indeed have the power to amend, repeal or improve all this ghastly EU legislation?» Dieser Mann ist also auch mit 69 noch nicht aus der Trotzphase raus.
«My Country» im National Theatre
Während sich ein feiner nationalistischer Nebel über das alles andere als vereinigte Königreich zu legen scheint, versucht das National Theatre, dem Phänomen Brexit auf seine Weise beizukommen. Intendant Rufus Norris und Autorin Carol Ann Duffy haben für «My Country» aus Interviews mit Menschen aus allen Landesregionen ein Kaleidoskop an Brexit-Meinungen und -Gefühlen zusammengestellt. Da sie London und Umgebung bewusst aussparen, ist aber auch hier der Tenor vor allem EU-skeptisch: So zitieren sie Niamh aus Nordirland mit «The EU doesn’t work. It’s one size fits all and we’re not one size fits all, we’re different countries with different histories, different cultures, different ... personalities», oder Eddie aus dem Südwesten: «I want us making our decisions for our country. I don’t give a shit if my banana’s straight or bent.» Diese Vox-pop-Blasen hat man in Variationen alle irgendwie schon mal gehört, so bringt «My Country» trotz bester Intentionen die Diskussion weder analytisch noch emotional weiter und ist von tagespolitischen Ereignissen überholt, noch bevor es sich vom National auf Tournee durchs ganze Land begibt. Man kriegt wahrscheinlich mehr von der aktuellen Stimmung auf der Straße mit, wenn man die Taxis zählt, die jetzt ein Union Jack Kissen im Rückfenster liegen haben oder die Pubs, an denen eine frische St. George-Flagge flattert.
Theater heute Mai 2017
Rubrik: Foyer, Seite 1
von Patricia Benecke
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