Die Geisterbahn. Beginn einer Erzählung
Im Nachhinein erscheint es mir seltsam, ja vielleicht sogar verlogen, dass ich selbst nie mit der Geisterbahn gefahren bin. Sie wurde 1998, dem Jahr meiner Matura, in unserem Hinterhof errichtet, der auf allen Seiten von fünf- bis sechsstöckigen Mietshäusern umstanden wird. Ich weiß noch, wie meine Mutter sich über den Lärm der Baumaschinen beklagte. Wochenlang ging das so, jeden Morgen ab sieben. Wenn der Wind ungünstig zwischen den Häusern der Nachbarschaft durchging, staubte es uns die Fenster ein.
Der Anblick der Baumaschinen war ein gewisser Trost, denn sie waren ausgesprochen hübsch. Es gab Giraffe, Echse, Froschmaul. Einmal wuchs über Nacht sogar ein Miniaturkran, wie eine Blume, und verrichtete seine Arbeit fast lautlos. Ich glaube, wenn man sich nur genug Mühe gäbe, könnte man alle Baumaschinenformen der Welt als Sternbilder im Himmel verzeichnen.
Die ersten Flyer erschienen Ende Juli im Haus. Der Sommer war da schon sehr groß, es gab Grillfeste in den Nachbargärten, und auf den Balkonen standen die Windrädchen erstarrt in der Hitze. Fliegen krabbelten aufgrund der erhöhten Erdanziehung den ganzen Tag über die Zimmerböden, genau an jenen Stellen, wo früher die Teller mit ...
CLEMENS J. SETZ, geboren 1982 in Graz, veröffentlichte bereits während seines Lehramtsstudiums in Germanistik und Mathematik literarische Texte und Übersetzungen. Außerdem schreibt er Theaterstücke, darunter «Vereinte Nationen» (2017), «Die Abweichungen» (2018) und «Flüstern in stehenden Zügen» (2020).
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Theater heute August/September 2021
Rubrik: Schreibwerkstatt, Seite 30
von Clemens Setz
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