Der große Abschied

Theaterkritiker sind berufsbedingt eine eigenwillige Spezies. Umso erstaunlicher, wenn viele Kritiker plötzlich immer wieder große Übereinstimmung bekunden in wichtigen Fragen. Zum Beispiel, welche Bühne das Theater des Jahres sein soll. Oder wer als Schauspielerin und Schauspieler des Jahres überzeugt. Oder welche Inszenierungen Diskurs & Erkenntnis geprägt haben in der abgelaufenen Spielzeit. Oder welches Stück das Stück der Stunde sei. Die 46 befragten Kritiker in diesem Jahr kommen zu sehr klaren Entscheidungen. Wer wollte da noch widersprechen? Vor großartigen und noch großartigeren Künstlern müssen Rezensenten kapitulieren.

Theater heute

In ihrer perfekt inszenierten Abschiedsspielzeit hat die Berliner Volksbühne bei den 46 Kritikern unserer diesjährigen Hitparade noch einmal nachhaltig Eindruck gemacht. Mit 18 Stimmen und damit von einem guten Drittel der Befragten gekürt, wird das Haus am Rosa-Luxemburg-Platz 2017 Theater des Jahres – zum dritten Mal insgesamt nach 1993 und 2016 (zusammen mit dem Berliner Gorki Theater). In gehörigem Abstand folgen das Theater Basel und das Theater Dortmund mit je 4 Stimmen.

Ebenso große Zustimmung wie die Volksbühne als Ganzes kann nur Valery Tscheplanowa als Schauspielerin des Jahres auf sich vereinen mit ihrer ersten Volksbühnenrolle als Margarete und Helena in Frank Castorfs «Faust»: 18 Kritiker*innen fanden sie unübertroffen. Franziska Hackl darf sich mit 4 Stimmen über den zweiten Platz für ihre Mascha in Simon Stones Baseler «Drei Schwestern» freuen. Mit 11 Stimmen wird Joachim Meyerhoff zum Schauspieler des Jahres in Thomas Melles Borderline-Roman «Die Welt im Rücken» (Wiener Akademietheater), Volksbühnen-Faust Martin Wuttke (6 Mal genannt) kommt auf den zweiten Platz.

Die Inszenierung des Jahres ist mit 9 Kritiker-Voten Milo Raus «Five Easy Pieces», das böse Spiel mit Kindern, die Erwachsene reenacten, uraufgeführt am Campo Gent. Frank Castorfs «Faust» mit 6 Stimmen folgt auf Platz zwei, Ulrich Rasches «Die Räuber» am Münchner Residenztheater knapp dahinter mit 5 Stimmen auf dem dritten Platz. Dramaturg des Jahres ist Stefan Bläske für «Five Easy Pieces» mit 5 Stimmen, knapp vor Sebastian Kaiser für Castorfs «Faust» (vier Voten).

Ulrich Rasches eindrucksvolle «Räuber»-Walzen werden mit 9 Voten zum Bühnenbild des Jahres gewählt, vor Aleksandar Denics «Faust»-Setting und Ersan Mondtags Entwurf für «Die Vernichtung» mit je 6 Stimmen. Bei den Kostümen des Jahres liegt Ersan Mondtag mit 11 Liebhabern für die Ganzkörper-Nackten in seiner Inszenierung von Olga Bachs «Die Vernichtung» in Bern weit vorne, auf dem zweiten Platz Victoria Behr mit 4 Stimmen für ihre «Pfusch»-Kostüme in Herbert Fritschs Insze­nierung an der Volksbühne.

Das Stück des Jahres ist mit 8 Voten Simon Stones Tschechow-Überschreibung «Drei Schwestern», gefolgt von Anne Leppers «Mädchen in Not» und Clemens Setz’ «Vereinte Nationen» (je 4 Stimmen). Nachwuchsautorin ist Olga Bach mit ihrem Generationsporträt «Die Vernichtung» (6 Stimmen), und als Nachwuchsregisseur*in (mit eigener Textentwicklung) fielen 4-mal Nora Abdel-Maksoud («The Making-of») und 3-mal Florian Fischer («Kroniek ...») auf. Bei den Nachwuchs-Schauspielerinnen liegt Sina Martens, bisher Frankfurt, ab sofort Berliner Ensemble, mit einer Stimme Vorsprung und 5 Voten knapp vor Linn Reusse vom Deutschen Theater Berlin; zum Nachwuchsschauspieler machen Michael Wächter (Basel) 4 Stimmen (plus einer in der Hauptkategorie).

Bleibt als Höhepunkt der diesjährigen Kritikerumfrage: das Ärgernis des Jahres! Und da schließt sich der Kreis: Über nichts hat man sich in Thea­terkreisen 2016/17 begeisterter, wütender, wehmütiger erregt als über die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, und zwar in jeder Hinsicht. Die Trauer, dass da etwas vorbei ist, was ein Vierteljahrhundert das deutschsprachige Theater mitprägte, überwiegt. Sie paart sich mit Zorn auf die Berliner Kulturpolitik, auf Chris Dercons Pläne für die Volksbühnen-Zukunft, schlägt aber gelegentlich auch um in Unverständnis für die unversöhnliche Haltung der bisherigen Volksbühnen-Crew gegenüber den Nachfolgern. Der Münchner Performance-versus-Schauspieltheater-Streit verblasst dagegen, hat aber dafür gute Chancen, im nächsten Jahr weitergeführt zu werden. Good-bye, Volksbühne – hello, Future!


Theater heute Jahrbuch 2017
Rubrik: Die Höhepunkte des Jahres 2016/17, Seite 142
von Red.

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