Der freiheitliche Skandal
Ein juristisches Gutachten liegt seit dem 10. Oktober 2022 auf dem Schreibtisch von Claudia Roth, der Staatsministerin für Kultur. Veröffentlicht wurde es erst Ende Januar. Offenbar haben die Hausjurist:innen im Kanzleramt drei Monate gebraucht, um die Tragweite möglichst eigenunschädlich zu verdauen und unauffällig zu kommunizieren.
Das zu klärende Problem hatte die documenta fifteen und die öffentliche Diskussion darüber aufgeworfen.
Offenkundig antisemische Exponate waren vom Kuratorenteam ruangrupa wenn nicht übersehen, so zumindest geduldet worden – und wurden nur nach einigem Zögern entfernt. Danach simmerte die Kontroverse um den richtigen Umgang mit möglicherweise rassistischen Inhalten unter gelegentlichen Eruptionen über den vergangenen Sommer. Die documenta-Generaldirektorin musste gehen, ein Gremium sollte alle Exponate auf weitere problematische Inhalte überprüfen, kam aber nie wirklich zum Zug. Unsicher über die Möglichkeiten staatlichen Eingreifens gab Claudia Roth ein Gutachten bei dem renommierten Berliner Verfassungsrechtler Christoph Möllers in Auftrag. Das hat es in sich!
Möllers stellt in aller Deutlichkeit fest, dass die Kunst- und Meinungsfreiheit so weit reicht – und zu dulden ist –, als keine anderen Rechtsgüter beeinträchtigt werden. Also sehr weit: «Künstlerische Entscheidungen wie der Entwurf von Programmen oder die Auswahl von künstlerischem Personal sind vor staatlichen Eingriffen grundgesetzlich geschützt. Staatliche Behörden dürfen grundsätzlich nicht ihre eigenen Entscheidungen an die Stelle von Entscheidungen ihres künstlerischen Personals stellen.» Die Grenze verläuft erst bei Beleidungen, Volksverhetzung, Aufrufen zur Gewalt oder Holocaust-Leugnung.
Ganz explizit schließt dieses Zensurverbot auch diskriminierende Äußerungen mit ein: «Die Freiheit der Kunst kann auch in Fällen rassistischer oder antisemitischer Tendenzen im Rahmen der Verhältnismäßigkeit vor staatlichen Zugriffen schützen.» Darin sieht Möllers den «freiheitlichen Skandal der grundgesetzlichen Ordnung». Man muss sich eben möglicherweise in Kunst und Öffentlichkeit auch Dinge anhören, die einem aus guten Gründen nicht gefallen. Nur in Ausnahmefällen könne der Staat hier eingreifen: «Nur als letztes Mittel, etwa im Fall ästhetisch distanzlos präsentierter politischer Progaganda, kommen direkte Eingriffe in künstlerische Vorgänge auch dann in Betracht, wenn keine Strafbarkeitsgrenze überschritten und keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit gegeben ist.»
Weiter hält Möllers unumwunden fest: «Grundrechtlich kategorisch ausgeschlossen ist es, künstlerische Programme einer staatlichen Vorabkontrolle zu unterwerfen. Der Rechtsgedanke des Zensurverbots findet auch auf die Kunstfreiheit Anwendung.» Kein Gemeinderat oder Ministerialbeamter darf sich also den Spielplan eines öffentlichen Theaters zur Vorkontrolle vorlegen lassen. Auch ein Antisemitismus-Check der documenta-Exponate durch ein staatlich installiertes Gremium wäre demnach verfassungswidrig gewesen.
BDS-Beschluss ohne rechtliche Wirkung
Interessant auch die Stellungnahme zum BDS-Beschluss des Bundestags von 2019, der öffentlichen Kultureinrichtungen in Deutschland aufgegeben hatte, keine Veranstaltungen mit BDS-nahen Personen oder israelfeindliche Inhalte zuzulassen. (Die BDS-Bewegung ruft mit Verweis auf die Situation in den Palästinensergebieten zum Boykott von Künstlern und Veranstaltungen auf, die von Israel unterstützt werden.) Seitdem sind zahlreiche Veranstaltungen abgesagt (zuletzt Mouawads «Die Vögel» in München), Preise nicht verliehen (Caryl Churchill in Stuttgart), Kurator:innen kritisiert worden (Stefanie Carp bei der Ruhrtriennale). Nach Möllers entfaltet «der BDS-Beschluss des Bundestags als schlichter Parlamentsbeschluss keine rechtliche Bindungswirkung». Mehr noch: «Wenn er von staatlichen Behörden angewendet wird, verstößt diese Anwendung nach der übereinstimmenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und der Instanzgerichte gegen die Meinungsfreiheit.» Kurz: Es handelt sich bei diesem Beschluss also um politische Folklore, deren Anwendung Rechtsfolgen haben kann. Wenn das kein Paukenschlag ist!
Die Freiheit der Kunst hat allerdings auch eine Kehrseite: Kunstschaffende müssen sich ihrerseits der öffentlichen Kritik stellen und schulden der Öffentlichkeit «Transparenz über Entscheidungsvorgänge»: «Künstler:innen, die scharf öffentlich kritisiert werden und sich deswegen über ‹Zensur› und ‹öffentlichen Druck› beklagen, zeigen damit an, dass sie ihre informelle Verantwortung in einer offenen Gesellschaft nicht annehmen. Rechtlich bleibt diese Klage irrelevant.»
Für die nächste documenta bedeutet das gutachterliche Ergebnis: Augen auf bei der Kurator:innenwahl! Ist ein Team erst einmal nominiert, hat es sehr weite Freiheiten.
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Theater heute März 2023
Rubrik: Foyer, Seite 1
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