«Beobachten, wie Menschen auf Brüche reagieren»
Theater heute Wolfram Höll, Sie kommen aus Leipzig und leben schon längere Zeit in der Schweiz. Man hört in Ihrer Stimme inzwischen einen leichten Schweizer Tonfall. Sie haben sich sprachlich schon akklimatisiert?
Wolfram Höll Ein bisschen, ich brauche zwei Wochen Leipzig, bis er wieder weggeht. Durch die Arbeit und die Familie ist das kaum zu vermeiden.
Ich verstehe hier inzwischen so ziemlich alles, aber wenn ich Schweizerdeutsch sprechen müsste, gäbe es ein fürchterliches Durcheinander aus all den verschiedenen Schweizer Dialekten. Zum Glück wurden die schweizerdeutschen Passagen in «Niederwald» auch alle noch gegengelesen.
TH Da wären wir beim Thema. In «Niederwald» gibt es ein traumatisches Ereignis und dann den Umzug einer kleinen Restfamilie aus Ostdeutschland in die Schweiz. Die Mutter des Kleinkinds ist gestorben – unklar, ob bei einem Unfall oder Suizid –, worauf Vater, Kind und Großmutter in ein kleines Schweizer Alpendorf ziehen, den Geburtsort der toten Mutter. Diese innereuropäische Migrationsgeschichte speist sich sicher auch aus eigenen Erfahrungen.
Höll Bei mir stehen oft Orte und Bilder am Anfang des Schreibens. Bei «Und dann» die Plattenbausiedlung, bei «Drei sind wir» dann Kanada und bei «Niederwald» die Walliser Alpen und vieles, was ich dort erlebt und gesehen habe und was poetisches Potenzial hat. Im Stück sehr wichtig sind beispielsweise die «Häuser, die Augen haben», und es ist tatsächlich so, dass in diesen Dörfern viele Leute mit Feldstechern hinter den Fenstern sitzen und schauen, was die anderen machen. Und es gibt auch Ställe, die auf Stützen stehen mit Steinscheiben in der Mitte, damit die Mäuse nicht hochlaufen und das Korn fressen können – «Häuser auf Beinen». Als Einheimischem würde mir das vielleicht gar nicht auffallen. Aber klar, es geht natürlich nicht nur um Bilder in «Niederwald», sondern um Figuren, die entwurzelt werden und an einen neuen Ort kommen. Es sind drei Generationen, die Großmutter, das Kind und dazwischen der Vater, der insgesamt eher ein Fremdkörper bleibt in der neuen Umgebung. Interessant finde ich besonders die Tochter und die alten Frauen. Die eine hat das Leben vor sich, die anderen sind schon durch und durch geprägt. Wie diese verschiedenen Generationen neue Wurzeln schlagen, finde ich am spannendsten.
TH In Ihren Stücken geht es oft um Trauer, Trauma und Verlust. In «Niederwald» ist die Mutter zu Tode gekommen, in «Drei sind wir» stirbt ein kleines Kind an einem Gen-Defekt, in «Und dann» hat sich die Mutter von der Familie getrennt und der Vater kommt alleinerziehend in eine Plattenbausiedlung. Alles existenzstürzende Ereignisse, die kleine Familienverbände aus den Gleisen heben. In allen Fällen handelt es sich um Transformationserfahrungen aus einer Lebensrealität in eine andere, und wie man dann damit zurechtkommt.
Höll Ich finde es spannend zu beobachten, wie Menschen auf Brüche im Leben reagieren. Da gibt es unterschiedliche Reaktionen, und manchmal entsteht an Stellen, wo man es nicht erwarten würde, Resilienz oder Anpassungsfähigkeit und an anderen Stellen überhaupt nicht. Die Stücke haben oft ein leeres Zentrum, und mich interessiert, wie die Figuren um diese Leerstelle herum damit umgehen. In «Niederwald» versucht der Vater, diese Leerstelle auszublenden – und wird natürlich trotzdem von ihr angezogen –, er versucht, ein Leben aufzubauen für sich und seine Tochter, die sie ignoriert und eigentlich auch sonst die Umgebung rundherum. Die Großmutter ist eine Art Gegenstück: Sie, die ihr Leben eigentlich schon gelebt hat und nun in diesem Alpendorf sitzt und sich interessanterweise anpasst, während der Vater mit der Situation viel schwerer umgehen kann. Vielleicht ist die Großmutter resilienter oder einfach viel lockerer, weil sie in ihrem Leben schon viel gesehen und erlebt hat, so dass es darauf jetzt auch nicht mehr ankommt.
TH Wie wichtig ist Ihnen denn eine konsistente Figurenpsychologie? Oder geht es mehr um die gesprochene Sprache?
Höll Auch wenn man es von außen vielleicht nicht so bemerkt, haben diese Figuren eine relativ klare Psychologie, sind starke umrissene Figuren. Aber ich verstehe gut, dass man einen anderen Eindruck bekommen kann. Sicherlich auch, weil vieles unausgesprochen bleibt.
TH Ist es Ihre Sprache, die alle sprechen?
Höll Ja, aber deshalb sprechen sie nicht unbedingt einheitlich. Die Großtanten haben beispielsweise einen ganz eigenen Rhythmus, werfen sich gegenseitig die Wörter zu, treiben sich an, putschen sich auf. Oder wie sie ihre kleinen Gemeinheiten gegenüber den Ankömmlingen platzieren. Oder die Momente, wenn sie Schweizerdeutsch sprechen; das sind oft Situationen, in denen sie andere ausschließen möchten. Oder wo es direkter und emotionaler wird. Da gibt es Abstufungen. Die Tochter wiederum beobachtet und beschreibt oft die Welt um sich herum, das ist eine ganz andere Erzähltemperatur. Aber ja: Trotzdem ist es natürlich meine Art, mit Sprache umzugehen.
TH So richtig redselig sind Figuren von Wolfram Höll eigentlich nicht …
Höll … trotz ihrer vielen Wörter!
TH Großes Problem: Wie schreibt man mit Sprache Schweigen?
Höll Beispielsweise, indem eine Figur etwas sagt oder beschreibt und die andere nicht darauf reagiert, in der eigenen Welt gefangen ist. Das wäre eine Art, wie bei mir trotz Schweigen gesprochen wird. Oder indem über andere Dinge gesprochen wird, aber das Wesentliche ungesagt bleibt.
TH Unser Stückabdruck, der dem Heft beiliegt, ist ja auch ein grafischer Sonderfall. Es stehen nicht die Dialoge untereinander, sondern die Figuren sprechen in Spalten, die nebeneinander stehen bleiben. Sieht ein bisschen aus wie eine Tropfsteinhöhle.
Höll Die Notation soll einerseits den Rhythmus, also die musikalische Gestaltung der Sprache klarer machen, aber man soll es deshalb bitte nicht als Gedicht lesen oder dann abgehackt auf der Bühne deklamieren. Andererseits kann man durch die Notation mitdenken, was die anderen Figuren gerade machen. Sie sind ja nicht auf einmal weg, nur weil sie nichts sagen. Und die Regie kann sich die Frage stellen, was diese Figuren eigentlich gerade an diesen Stellen tun. Der Vater in «Niederwald» sagt eigentlich das Stück über sehr wenig, ist aber viel anwesend. Wichtig ist eben auch die Nichtkommunikation. Die Konflikte oder Probleme mit der Tochter bleiben lang ausgespart. Da ist die Notation wichtig.
TH Dadurch fällt auch auf, dass es lautmalerische Motive gibt, die sich durch alle Figuren ziehen und sie verbinden.
Höll Ja, es bilden sich dadurch immer wieder sprachliche Gemeinschaften. Solche Konstellationen werden auch grundsätzlich schon durch die Notation angezeigt: Wenn die Spalten der Schweizer Urgroßtanten ganz rechts stehen, die Großmutter – die immer wieder deren Nähe sucht – in der Mitte, die Tochter ganz links, der Vater zwischen Tochter und Großmutter, dann sagt das alles schon etwas aus über die Figuren und ihre Beziehungen zueinander. Oder wenn die eine Urgroßtante stirbt, dann bleibt die Spalte leer, ist aber trotzdem als Leerstelle noch vorhanden. So dass auf dem Papier schon ein bisschen Theater passiert.
TH Führen Sie mit der Notation Regie?
Höll Nein, das würde ich so nicht sagen. Die Notation soll gewisse Strukturen – Sprache, Rhythmus, Figurenkonstellation – ganz intuitiv nachvollziehbar machen. Und wenn man auf den Text von «Niederwald» schaut, dann sieht man: In meiner Art, Stücke zu schreiben und aufzuschreiben, gibt es ja sehr viel Raum, sehr viel Weiß auf dem Papier. Der Platz, den sich Regie, Bühne, Kostüme, Körper und Musik nehmen, der ist dort immer schon da.
TH Sie haben eingangs vom «poetischen Potenzial» der Stoffe gesprochen, über die sie schreiben. Es ist interessant, dass Sie diese Existenzkatastrophen, Lebensabbrüche, Transformationen poetisch bearbeiten und nicht etwa drastisch oder verzweifelt realistisch. Ist das Poetisieren dieser Stoffe nicht auch ein Verharmlosen?
Höll Nein, gar nicht! Es geht ja nicht darum, schlimme Dinge schön zu beschreiben. Sondern darum, die Eindrücke zu formulieren, die die Figuren von der Welt haben. Wenn die Findlinge in «Und dann» «Verlierlinge» genannt werden, dann ist es nicht Wolfram Höll, der das so sieht, sondern die Figuren aus ihrer Kinderperspektive. Für mich hat das mit einer Ermächtigung der Figuren zu tun, die versuchen, sich einen Reim auf die Welt zu machen, eine Sinnhaftigkeit, um damit zurecht zu kommen. Dieser Reim auf die Welt kann aber auch ein Gefängnis sein. Der Vater in «Niederwald» sieht überall nur Zeichen seiner toten Frau: In den verschneiten Berghängen, die ihm wie Schenkel erscheinen, oder auf einem kleinen Feld, das er als Grab liest.
TH Die Natur spielt eine große Rolle in «Niederwald», was für urbane Leipziger oder Berliner eher ungewöhnlich ist. Weshalb sie für manche Städter zum Sehnsuchtsort wird.
Höll In «Niederwald» ist die Natur aber auch eine latente Bedrohung: Der Ort ist so gebaut, dass Lawinen links und rechts vorbeirauschen. Dann ist da ein reißender, ohrenbetäubender Fluss. Und dann ist es vor allem auch eine Landschaft im Wandel: Die Gletscher schmelzen weg, auch wenn die alten Menschen immer älter werden und sich niemand ändern will. Dass in den Alpen ganze Dörfer ins Rutschen kommen oder unter Schlammlawinen begraben werden, ist Realität. Diese Transformationserfahrungen, von denen wir gesprochen haben, die machen in meinem Stück nicht nur Figuren, sondern auch ganze Landschaften und letztlich auch die Gesellschaft.
TH Der Titel ist eine große Naturmetapher: «Niederwald». Was genau versteht man darunter?
Höll Es gibt verschiedene Definitionen. Eine forstwissenschaftliche lautet, dass man Bäume zurückschneidet, damit sie mit vielen Ästen oder Strünken wieder ausschlagen. Man kennt das von Haselnusssträuchern. Früher hat man sich damit laufend Brennholz verschafft. Eine regelmäßige Verjüngung, so wie man früher in diesem Dorf wohl auch neun Kinder hatte. Doch diesen Rückschnitt macht niemand mehr, und das Dorf selbst überaltert auch, die Kulturlandschaft wird wieder Natur. Im Stück wird ja thematisiert, immer wieder nachgefragt, was denn nun genau «Niederwald» bedeute.
TH Der Bedeutungsraum ist weit, auch das Gestrüpp der dicht verschlungenen Regeln der Einheimischen ist eine Art Niederwald.
Höll Ein Gestrüpp von Regeln und Ritualen, wobei oft nicht ganz klar ist, ob es diese Regeln schon immer gab oder erst seit zwei Minuten. Damit spielen die Einheimischen auch.
TH Regeln, Rituale und nicht zu vergessen die lokalen Mythen und magischen Erzählungen der Einheimischen. Für eher säkulare Zeitgenossen im 21. Jahrhundert, die es dorthin verschlägt, etwas gewöhnungsbedürftig.
Höll Das Wallis ist tatsächlich ein von Ritualen durchzogener Raum, vor allem natürlich katholisch geprägt. Und dann gibt es dort aber auch Sagen wie die vom «Gratzug». Dass die Seelen der Verstorbenen, die nicht ins Paradies dürfen, durch die Alpen ziehen. Dieser Volksglaube, diese Naturmagie ist für die «Zugezogenen» im Stück eine noch größere Herausforderung als die täglichen Umgangsformen. Aus der Kinderperspektive sind diese Dinge faszinierend – und auch eine Möglichkeit, das Schweigen zu überwinden –, wohingegen sich der Vater komplett dagegen sträubt und die Großmutter eher Angst bekommt. Aber dafür macht man ja auch Kunst, damit der Gratzug dann real werden darf.
TH Wie nah sind sich denn nun die Schweiz und Leipzig aus Ihrer Erfahrung?
Höll Die Schweiz und Leipzig sind einerseits sehr nahe Kulturen, aber man unterschätzt die Unterschiede, die sich im Feinstofflichen bewegen. Meine Frau ist Schweizerin, dadurch habe ich natürlich auch einen familiären Zugang. Ich persönlich kann mich als Zugezogener immer auch ein bisschen distanzieren, wenn mich hier politische Debatten oder gesellschaftliche Entwicklungen stören. Ganz konkret: Wenn jemand im Zug Schweizerdeutsch spricht, kann ich weghören. Das kann ich in Leipzig nicht. In Leipzig kann ich mich dagegen schwer distanzieren, das geht mir extrem nah. AfD und Pegida, da bekomme ich sehr schlechte Laune.
TH Bei der AfD bekommen gerade viele Leute schlechte Laune, gottseidank! Wie erklären Sie sich denn, dass eine rechtsextreme Partei, deren Demokratieverständnis sehr in Frage steht, dort bei den nächsten Landtagswahlen die relative Mehrheit holen könnte?
Höll Da scheint sich sicherlich – und da wären wir wieder beim Stichwort – eine große Müdigkeit zu artikulieren, noch eine und noch eine Transformation mitzumachen, verbunden mit dem Gefühl, dass dabei nichts für einen rausspringe. Dann ist man natürlich auch schnell bei einem Narrativ, bei einer Identität: Ostdeutsche als Opfer – dass ich das aus einer privilegierten Position sage, ist mir bewusst. Deswegen ist mir die Figur der Großmutter auch so wichtig in «Niederwald»: Ihre Biografie ist durch und durch ostdeutsch, aber sie geht anders mit Transformationen um. Die Menschen in Ostdeutschland waren und sind ja nicht einfach nur Objekte oder Opfer von Transformationen, sondern Subjekte und Gestalter: Die entscheidenden Impulse zu Wende und Wiedervereinigung haben sie schließlich selbst gegeben.
Das Gespräch führten Eva Behrendt und Franz Wille
WOLFRAM HÖLL, geboren 1986 in Leipzig, studierte Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut Biel und Theater an der Hochschule der Künste Bern. Seine Stücke «Und dann» und «Drei sind wir» wurden 2014 und 2016 jeweils mit dem Mülheimer Dramatikpreis ausgezeichnet. Er lebt in Biel/Schweiz.

Theater heute März 2024
Rubrik: Das Stück, Seite 50
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