Verwandlung
Wie zerbrechlich sind Selbstverständlichkeiten! Die Verbreitung von COVID-19 und die dagegen verordneten Maßnahmen wie social und physical distancing haben uns die Fragilität zwischenmenschlicher Beziehungen ins Bewusstsein gerufen. Ihr Zerfall würde den gesellschaftlichen Zusammenbruch bedeuten. Verändert sich eine Gesellschaft, verschieben sich auch die Grenzen ihrer Ordnungsprinzipien, und vice versa. Wir erleben gerade solche Veränderungen und lernen uns als Gesellschaft neu kennen. Das gegenwärtig gelebte Ordnungsprinzip beruft sich auf Distanz.
Was geschieht nun mit sozialen Praktiken, die von Nähe als Grundprinzip leben – wie zum Beispiel der Tango Argentino? Ihm sind Umarmung und Berührung essenziell. Die Wissenschaften haben ihn längst für sich entdeckt: Studien aus Neurologie, Endokrinologie und Psychologie belegen seine therapeutische Wirkung in bestimmten Zusammenhängen. Mir geht es dagegen um Tango Argentino als ästhetische Ausdrucksform soziokultureller Kommunikation. Von dieser Warte betrachtet, repräsentiert der Tango eine Gesellschaft, wie sie (nicht) ist oder (nicht) sein sollte. Er gestaltet einen Raum, der die Erfahrungen einer anderen Ordnung als der gesellschaftlich vertrauten ermöglicht. So wird er selbst zu einem bedeutungstragenden Medium sozialer Kommunikation.
Der Raum seiner Praxis heißt Milonga und ist wortgeschichtlich seit 1872 in der Bedeutung «Tanzveranstaltung» belegt. Ich verstehe die Milonga als heterotopischen Raum. Der Begriff «Heterotopie» findet sich in einem Entwurf des französischen Philosophen und Soziologen Michel Foucault (1926 – 1984) unter dem Titel «Des espaces autres» (1967). Auf die Milonga bezogen bedeutet Heterotopie: Sie fordert eine Praxis, die der öffentlichen Ordnung einerseits entgegensteht, sie aber andererseits ausgleicht; sie bricht mit Konventionen, etabliert jedoch zugleich eigene Regeln; sie vereinbart Unvereinbarkeiten und erzeugt ein Spannungsfeld zwischen Illusion und Kompensation. Milongas finden in historischen Hallen, eleganten Lokalen, Tanzschulen, gutbürgerlichen Cafés und alten Baracken irgendwo am Stadtrand statt. Auch wenn sie unter freiem Himmel stattfindet, bildet die Ronda – das Tanzen aller im Kreis gegen den Uhrzeigersinn – die äußere Grenze zum öffentlichen Raum. Dank der Grenze gelingt es leichter, sich von der Welt da draußen eine Zeit lang zu verabschieden. Beide Welten haben Gemeinsamkeiten: Hier wie dort vereinen sich Menschen räumlich, hier wie dort wird kommunikativ gehandelt. Und doch könnten die Kommunikationssysteme unterschiedlicher nicht sein.
Eines meiner Lieblingsrestaurants verwandelt zweimal pro Woche seine Atmosphäre. Es wird innerhalb weniger Minuten zu einem Raum umgestaltet, der nicht mehr die gastronomischen, sondern die seelischen Bedürfnisse nach Genuss befriedigt. Hier wird Tango getanzt. Nach der Verwandlung steht nicht mehr der Verzehr gaumenberauschender Speisen im Vordergrund, sondern das Erleben leidenschaftsentfachender Tänze. Die soziale Praxis des Restaurants durchläuft ebenfalls eine Verwandlung – ein anschauliches Beispiel dafür, dass Räume keineswegs statisch, sondern stets dynamisch geordnet sind. Die Verwandlung bewirkt auch die Veränderung des kommunikativen Handelns. Für die soziale Praxis der Milonga im Stil «Tango de Salón» existiert ein Verhaltenskodex nonverbaler Art, der mit dem Namen Carlos Gavito (1942 – 2005) als «Galateo della Milonga» in die Geschichte eingegangen ist. Wie der Tango selbst gehören auch sein Kommunikationssystem und seine soziale Praxis zu unserem immateriellen Kulturerbe.
An erster Stelle steht «conexión» (die Verbindung). Für die Tänzer entsteht sie durch «mirada» und «cabeceo» vor dem Betreten der Ronda – die Einladung mittels Blickkontakt und ein Nicken als Zeichen der Einwilligung. So beginnt der Tango: in den Augen und als ein Spiel der Verführung. Dank «mirada» und «cabeceo» entfaltet sich ein angemessener Kommunikationsraum für alle Beteiligten. Sie sind Ausdruck des Respekts und retten uns davor, in Verlegenheit zu geraten. Sind sie gelungen, darf die Tanda beginnen – der eigentliche Tanz. Sie ist im besten Falle eine einzigartige Welt der Kommunikation, die auf ein einziges Element angewiesen ist: «el abrazo», die Umarmung. Durch sie entsteht eine Verbindung intimer Art, die ausschließlich das Tanzpaar betrifft. Eine Tanda dauert in der Regel zwölf bis fünfzehn Minuten, sie kann unvergesslich, aber auch zur Qual werden. In enger Umarmung spricht der Atem. Der Mensch lernt nicht zu atmen, um zu überleben, sondern um sich lebendig zu fühlen. Eine Tanda in einer gelungenen Umarmung fühlt sich an wie Poesie, deren richtig platzierte Wörter die Schritte sind. Sie wird zu einer Qual, wenn das Ego das Duo ersetzt.
Milongueras und Milongueros sind angehalten, rücksichtsvoll auf dreiparallelen Spuren entgegen dem Uhrzeigersinn in einer Ronda zu tanzen. Rückwärtsschritte sind nicht nur gefährlich, sondern auch respektlos. Eine «salida» zur Seite darf nur geführt werden, wenn die Innenseite der Ronda sie erlaubt. Ein guter Milonguero hat eine zuverlässige Raumwahrnehmung. Es ist wichtig, dass Tanzpaare einer Ronda sich gegenseitig vertrauen. Im Tango de Salón bleiben die Füße stets im Kontakt mit dem Boden. Der Milonguero führt seine Milonguera derart, dass sie andere Paare oder Gegenstände nicht berührt. Figuren, die Raum in Anspruch nehmen, gilt es zu vermeiden. Die Kunst ergibt sich aus der Fähigkeit, auf der Stelle zu tanzen, wenn der Tanzkreis sich langsam bewegt. Für Gavito liegt das Geheimnis des Tangos in den Momenten der Improvisation – zwischen dem einen und dem anderen Schritt. Sie machen das Unmögliche möglich: Man tanzt Stille. Ein charakteristisches Lied für diesen Ausdruck ist Francisco Canaros «Poema» (1925).
In einer Milonga tanzen Anfänger wie Fortgeschrittene. Anfängersollten erst die Regeln (aner-)kennen lernen, bevor sie eine Milonga betreten. Fortgeschrittene sollten es vermeiden, Anfänger zu maßregeln. Respekt gilt für beide Seiten. Eine Milonga ist kein Unterricht, sondern ein Raum allseitigen Vergnügens. Wenn Fremde eine Milonga besuchen, werden sie höflich empfangen, in der Pause durch den Veranstalter vorgestellt, dann von der Gesellschaft zum Tanz eingeladen. In der Milonga begrüßen sich alle, jedoch nicht immer verbal, sondern oft dezent, mit einem Blickkontakt, einem leichten Kopfnicken, einem Lächeln – elegant und höflich. Wer eine Milonga betritt, bleibt nicht stehen, sondern sucht sich schnell einen freien Platz und setzt sich. Wer eine Milonga verlässt, verabschiedet sich nicht in Gruppen am Rande der Tanzfläche. Von Tanzenden verabschiedet man sich bestenfalls gestisch. Die Milonga darf keinesfalls gestört werden.
Der Verhaltenskodex der Milonga beinhaltet neben Regeln auch Rituale mit magischer Wirkung, die Einblicke in die symbolische Welt kultureller Praktiken gewähren. Um nur ein Beispiel zu nennen: Der Wechsel von Straßen- zu Tangoschuhen signalisiert, dass wir dem Alltag entfliehen, den Tanz ernst nehmen und unsere Bereitschaft angemessen kommunizieren. Vor allem für Frauen ist der Schuhwechsel ein Initiationsritus. Viele betreten eine Milonga mit bequemeren oder gar flachen Schuhen; ihre High Heels verwahren sie in speziellen Schuhtaschen. Die Schuhe sind im Design extravagant und vielfältig, bilden oft das Gesprächsthema des Abends und erfreuen bisweilen das Auge. Mit der Symbolik der hochhackigen Tanzschuhe gehen Attribute einher, die traditionell den populären Begriff des Tango beschreiben: Eleganz, Weiblichkeit, Leidenschaft und Erotik. High Heels signalisieren die Bereitschaft, höchstwahrscheinlich in der Rolle der Folgenden tanzen zu wollen. Die meisten Frauen tragen Schuhe mit einer Absatzhöhe von acht bis zehn Zentimetern, Anfängerinnen be-gnügen sich mit der Hälfte. Die Erfahrung zeigt: Je kleiner der Fuß, desto höher der Absatz; je höher der Absatz, desto höher das Tanzniveau. In solchen Schuhen elegant zu stehen und zu laufen, will gelernt sein. Auf der anderen Kommunikationsseite steht nun der Mann. Er darf eine Frau, die ihre Tangoschuhe nicht angezogen oder bereits ausgezogen hat, niemals zum Tanz auffordern. Schuhe und Körperhaltung verraten, wann eine Frau bereit ist, ein «cabeceo» zu erwidern. Man(n) kann dieses Geheimnis entdecken!
Die Summe der Symbole und Geheimnisse lässt den Tango als Erzählung einer magischen Geschichte wie als zeitlose Interpretation des Lebens verstehen. Sie erleuchtet Fantasien und umfasst die verborgene Tiefe der Seele. Vielleicht ist es auch der allgemeine Mangel an Körperkontakt, der Menschen zum Tango bewegt. Tango stillt die Sehnsucht nach Nähe, aber immer nur für kurze Zeit. Er liefert eine Kostprobe dessen, was sein sollte und vermutlich nie sein wird. Jorge Luis Borges bemerkt in «El tango»: «Der Tango macht mit uns, was er will, treibt uns herum und auseinander und dann wieder zusammen.» Die Sehnsucht nach Nähe bleibt, auch wenn das Bedürfnis danach unter den sozialen Einschränkungen der Pandemiezeit an Kraft zu verlieren droht. Der Tango führt Menschen zusammen, er fördert ihren Zusammenhalt und kann gesellschaftlich beispielhaft wirken. «Manchmal erlischt unser Licht und wird durch einen Funken von einem anderen Menschen wieder entzündet.» Ein Gedanke Albert Schweitzers – auf den Tango trifft er zweifellos zu.
Hamid Tafazoli ist Privatdozent für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Bielefeld Die Fotografien stammen aus dem Band «Lost in Tango – eine Reise» von Klaus und Philipp Hympendahl, www.heel-verlag.de; www.edition-hympendahl.de

Tanz Februar 2021
Rubrik: Tango, Seite 48
von Hamid Tafazoli
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