Staunen und Gestalten
Ihren letzten Tanz in St. Pölten legte Brigitte Fürle höchstpersönlich hin – im Juni, beim Abschiedsabend nach neun Jahren Intendanz am Festspielhaus: In der halbstündigen von Sylvain Émard gestalteten Performance «Le Grand Continental: alle tanzen» bewegten sich an die 100 Amateur*innen in sorgfältig geprobten, swingenden Motiven vor der zeitgenössischen Architektur des Festspielhauses.
Später erklang noch Beethovens Neunte, vom Tonkünstler Orchester Niederösterreich unter Yutaka Sado musiziert und in poetische Akrobatik transponiert von Yaron Lifschitz und seinem bezwingendem australischen Circus-Ensemble Circa. Brigitte Fürle hat als Kuratorin in unterschiedlichen Positionen, Formaten und Häusern gewirkt. So etwa beim «steirischen herbst» in Graz, den «Wiener Festwochen», den «Salzburger Festspielen» und am Frankfurter Schauspiel. Von 2006 bis 2012 hatte sie die künstlerische Leitung für die Theater- und Tanzprogrammierung der Reihe «spielzeit’europa» im Haus der Berliner Festspiele inne, im Jahr darauf wechselte sie nach St. Pölten – mit Schwerpunkt Tanz und Musik. Brigitte Fürles unabdingbarer Neugier nach neuen Theater- und Tanzformen kam ihre unstillbare Reiselust von Anfang an entgegen. Sie hatte ein Jahr in Italien zugebracht, ehe sie Theaterwissenschaft studierte, ein Stipendium ermöglichte ihr danach, dorthin zurückzukehren. Und mit diesem Ausflug in die Vergangenheit starten wir unser Gespräch …
In den 1970er- und 1980er-Jahren tauchten neue europäische Spielarten theatraler und tänzerischer Formen vor allem in Italien auf.
Italien war tatsächlich das Mekka der Avantgarde und wurde zu meinem zweiten Zuhause. Es gab und gibt immer noch Festivals wie die in Polverigi und Santarcangelo. Ich habe damals auch Romeo Castellucci kennengelernt, der im Verbund mit seiner Schwester Claudia und mit Paolo und Chiara Guidi 1981 die Socìetas Raffaello Sanzio gegründet hatte. Meine Mentoren waren quasi die großen Kritiker*innen und Theaterthereotiker*innen wie Franco Quadri, Valentina Valentini und Giuseppe Bartolucci, die die zeitgenössische Szene begleiteten. Da war diese unglaublich tolle Szene mit Giorgio Barberio Corsetti, Falso Movimento, Mario Martone ... In Italien gab es ja kein Repertoiretheater wie im deutschsprachigen Raum, aber dafür eben sehr viel freie Szene, damals Humus, übrigens auch für die belgische Szene.
Wie bist Du eingestiegen?
Mit diesem Wissen habe ich begonnen, darüber zu schreiben, habe mir dadurch immer wieder eine Reise angezettelt, kannte dann sehr bald Anne Teresa De Keersmaekers Rosas, dockte bei den «Wiener Festwochen» an, die damals Klaus Bachler leitete, und wurde nach drei Jahren angestellt. Da hatte ich dann auch schon drei «Big Motion»-Serien gemacht – neue internationale Theaterformen, die ich in der damals legendären Halle G im Museumsquartier kuratierte. Es kamen Robert Lepage, Castellucci, Jan Lauwers, La Fura dels Baus und viele andere. Zum neuen Tanz brachten mich vor allem Lloyd Newson mit DV8 und Angelin Preljocaj. Ich hatte mir da schon recht früh eine Art USP, also Alleinstellungsmerkmal, erarbeitet.
Wie hast Du Deine Programme gebaut?
Am Anfang ist immer noch der Moment des Staunens. Und ich habe als Alleinentdeckerin immer spezielle Wege zu den Künstler*innen gesucht, dorthin wo sie herkommen, wie sie leben, wie sie arbeiten, zwischen Kamerun und Vietnam. Ich habe die Künstler*innen nicht über Festivals abgeholt. Das ist zwar sehr aufwendig, aber letztlich viel fruchtbarer. Bei den Festivals hat niemand Zeit, mit dir zu reden. Es braucht aber eine Beziehung mit den Künstler*innen. Wenn es die nicht mehr gibt, wird alles austauschbar. Ein Festival wie die «Wiener Festwochen» muss ein Entdeckungsfestival sein. Ganz wichtig: Mein persönlicher Geschmack ist nicht das Nonplusultra, es muss einen Spannungsbogen geben, der für das jeweilige Haus passt.
Hinter der Organisation der Premierentermine steckt aber noch was ganz anderes.
Ich wollte immer ein Produktionshaus installieren, das habe ich in Berlin und in St. Pölten auch gemacht, also eine Residency nach der anderen angeboten, denn Künstler*innen brauchen Raum und Zeit. Im Haus der Berliner Festspiele fand ich das eine gute Idee, solche Produktionsschienen einzuziehen. Ivan Nagel wollte ein Gastspielhaus, Joachim Sartorius schloss sich der Idee an. Ich finde übrigens nicht, dass wir noch mehr Festivals brauchen, vielmehr müssen wir gute Produktions-Möglichkeiten für die Künstler*innen schaffen. In Berlin ist aktuell im Haus der Festspiele nur mehr das Theatertreffen übriggeblieben als größeres Ereignis. Mit dem Ergebnis, dass die gesamte internationale Szene heute an Berlin vorbeirauscht. Insofern sollte die Politik schon mit Expert*innen sprechen, ehe man solche Kahlschläge setzt. Weder Berlin noch St. Pölten waren übrigens Repertoirehäuser. Deshalb konnte ich die große Bühne einer internationalen Szene zur Verfügung stellen, aber auch der lokalen. Das ist genau das, was das Publikum sehen will.
St. Pölten hat ja eine Sonderstellung: 23 Minuten mit dem Zug von Wien entfernt, zeigt es vieles, was an Wien vorbeirauscht ...
Die Geschichte des Festspielhauses hat Mimi Wunderer sehr klar mit Tanz begonnen. Michael Birkmeyer, Joachim Schloemer folgten. St. Pölten ist genau das Haus für großformatige Gastspiel-Tanzproduktionen, das Wien unter dem Jahr nicht hat. Wir können außerdem immer genug Bühnenproben anbieten, was Staatstheatern mit Repertoire-Betrieb gar nicht möglich ist. In jedem Fall hat sich das Festspielhaus eine große Rolle im Bereich des Tanzes erarbeitet, mit unterschiedlichen Ästhetiken. Ich nenne jetzt nur Gregory Maqoma, Hofesh Shechter, Sidi Larbi Cherkaoui. Aber es ist harte Arbeit, die Künstler*innen dem Publikum nahe zu bringen, und dann kam noch Corona.
Ist man als Kuratorin, die subventionierte Häuser bespielt, nicht eingezwängt zwischen den Polen Politik und Publikum? Musstest Du Dein Programm verteidigen?
Ich muss gestehen, ich hatte weder bei den «Wiener Festwochen» noch in Berlin oder in St. Pölten ein Problem. In Graz habe ich geschwitzt, als ich «Gilgamesh» von Castellucci mit zwei nackten Männern und zwei Doggen zeigte, und in Wien 1994 anlässlich der ersten queeren Show, Penny Arcades «Bitch! Dyke! Faghag! Whore! Sex and Censorship Show», nochmal dann 1995 bei einem Abend mit Quentin Crisp im Theater an der Wien. Aber ich genoss immer das Vertrauen auf der anderen Seite und ich konnte mein Ansinnen immer rechtfertigen. «Schaut her: Das ist mein Blick auf die Welt, weswegen ich auch Künstler*innen aus Südafrika, Australien und Südkorea einlade.» Ich wollte nie einen eurozentristischen Blick vertreten.
Gerade hat ja die MeToo-Debatte auch Österreich erreicht, vor allem in der Filmbranche.
Ich selbst habe sexuellen Missbrauch und Nötigung an all den Häusern nie erlebt. Das scheint sich vor allem unter männlicher Leitung zuzutragen, da liegt die Verantwortung schon bei der Politik, aber auch bei den Frauen, den Opfern selbst, die sich viel früher und schneller wehren müssen. In Berlin und in St. Pölten war ich selber die Führungskraft und habe mir gewünscht, dass das Team auch eigenverantwortlich schaut, dass alles gut geht. Ich kann das nicht allein, wir machen es zusammen.
Letztlich geht es auch um Kontinuität im Programmieren. Wie neu muss etwas sein?
Nach einer gewissen Zeit tritt man in eine Beziehung mit Künstler*innen, es wird versucht, einen in die Pflicht zu nehmen. Aber ich habe nie automatisch die nächste Produktion eingeladen. Ein wichtiger Punkt: Ich habe mich immer als Dienstleisterin verstanden. Will heißen: Ich arbeite für die Architektur, die Struktur, das Publikum. In St. Pölten habe ich daher die kleine schwarze Box, die Joachim Schloemer einbauen ließ, wieder rausreißen lassen und wieder als Kammermusiksaal genutzt. Die große Bühne des Festspielhauses hat 1100 Plätze im Zuschauerraum, da kannst du nicht kneifen und kleinformatig arbeiten. Für ein großes Haus zu arbeiten, ist etwas anderes als für eines mit 400 Plätzen.
Du machst weiter?
Ich bleibe weiterhin internationale Kuratorin für Carmen Romero und ihr «Santiago a Mil»-Festival in Chile, das 2023 sein 30-jähriges Bestehen feiert. Chile ist ein sehr spannendes Land mit einer großen politischen Neuausrichtung, im speziellen auch in der Frauenbewegung, und es nähert sich jetzt auch seiner Geschichte mit der indigenen Bevölkerung, den Mapuche, an. Ich kreiere Projekte, beispielsweise «Dancing Grandmothers» von Eun-Me Ahn mit Santiagos koreanischer Community. Aber die Riesenverantwortung, 1100 Plätze zu füllen, fällt weg.
Was war das Tollste, was das Schrecklichste in Deiner mehr als 30-jährigen Karriere?
Mein schönstes Erlebnis: Als wir nach dreimaliger Verschiebung endlich im Herbst 2022 die Premiere von Pina Bauschs «Frühlingsopfer» mit Tänzer*innen aus 14 verschiedenen afrikanischen Ländern, die zwei Jahre auf diesen Moment gewartet haben, feiern konnten. Es ist diese besondere Beziehung zu den Künstler*innen, die ich immer auch als ein großes Geschenk der gegenseitigen Wertschätzung erleben durfte. Sylvie Guillem hat beispielsweise 2015 die Tournee ihres Bühnenabschieds so geplant, dass sie ihren Abschied in Europa im Festspielhaus St. Pölten gab. Vor Kurzem habe ich sie in Italien, wo sie jetzt lebt, wieder getroffen.
Und das Schlimmste?
Dass es nach meinem Weggang von den Berliner Festspielen und dem Ende der von mir geleiteten viermonatigen «spielzeit’europa» einen massiven Einbruch gegeben hat. «spielzeit’europa» hat jährlich knapp 20 000 Zuschauer*innen mit internationalem Tanz und Theater ins Haus der Berliner Festspiele gelockt – und das war harte Aufbauarbeit. Auch das Nachfolgefestival «Foreign Affairs» wurde nach wenigen Editionen eingestellt. Und so ist dieses Publikum einfach weggebrochen. Das Haus der Berliner Festspiele, das damals mit 15 Millionen Euro technisch auf den neuesten Stand gebracht wurde, und ein Leuchtturm für internationale Kreation sein könnte, wird nur mehr selten bespielt. Und das ist doch ein Unding.

Tanz August/September 2022
Rubrik: Hinter den Kulissen, Seite 49
von Andrea Amort
tanz. Zeitschrift für Ballett, Tanz und Performance
Herausgeber
Der Theaterverlag – Friedrich Berlin
Redaktion Sofie Goblirsch, Falk Schreiber, Marc Staudacher, Dorion Weickmann (Leitung), Arnd Wesemann
Redaktionsassistenz: Johanna Rau
Nestorstraße 8-9, 10709 Berlin Tel. +49-30-254495-20, Fax -12 redaktion@tanz-zeitschrift.de www.tanz-zeitschrift.de
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Fortbildungen
The Dutch National Ballet Academy (NBA), Amsterdam
New course BA Teacher of Classical Ballet; www.atd.ahk.nl
HZT Berlin
MA Soda (MA) Solo/Dance/Authorship Studienbeginn: April 2023 maC (MA) Choreographie
1. Oktober bis 1. November Studienbeginn: Oktober 2023 Tanz (BA), Kontext, Choreographie
1. Oktober – 1. Dezember Studienbeginn: Oktober 2023 www.hzt-berlin.de
Symposium
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Eine Newcomerin aus Kanada, die auch Düsseldorf auf Anhieb begeistern wird: Andrea Peña & Artists aus Montréal zeigen das bei «TANZ Bremen» als Europapremiere präsentierte «6.58: Manifesto», eine unglaublich intensive und faszinierende Performance. In drei großen Tableaux erschafft die Choreografin mit ihren Tänzer*innen Bilder von suggestiver Kraft – mal einsame Kämpfe, mal emotionale...