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mr. gaga alias Ohad Naharin im Kino – Wir schenken Ihnen die DVD «La Reine Morte» von Kader Belarbi – CD: «Swan Lake» in neuem Arrangement – Ernährungsratgeber für Tänzer – William Forsythes choreografische Objekte in Katalogform

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Am 28. Mai 2017 um 22.55 auf arte, danach bis zum 26. August unter http://www.arte.tv/de/videos/052804-000-A/mr-gaga

im kino: mr. gaga
«Don‘t fuck with me, my life depends on you.» Sagt man das als Choreograf zu seinen Tänzern, bevor sie auf die Bühne müssen? Gähnt man ihnen noch ein «Du laaangweilst mich» entgegen? «Mr. Gaga» tut’s in diesem nach Comedy klingenden Film. Wer Ohad Naharin kennt, weiß es besser: «Gaga» ist die berühmte Trainingstechnik des Israeli, die heilt, versöhnt, verführt, so sehr, dass der Guru nur Anweisungen ins Mikrofon brüllen muss, um Hunderte Tanzwillige dazu zu bringen, die Bewegungsimpulse in ihren Körpern zu erforschen.

Naharin, Heilkünstler und Machotänzer – keine «nasse Nudel», wie eine Lehrerin dem genialen Choreografen und Chef der Batsheva Dance Company attestiert.
Seine Stücke sind sturztraurig, rasend zärtlich und voller Unterleib. Er selbst gibt sich zuweilen so sarkastisch, dass einem das Blut in den Adern gefriert. Ein Charakter voller Widersprüche, ein Traumtyp für die Kamera. Eigentlich. Tatsächlich wird Regisseur Tomer Heymann acht Jahre lang regelmäßig aus Naharins Studio geworfen. Dank ihrer «Win-Win-Mesalliance» gelingt dennoch ein fantastischer Film – der zuletzt Freundschaft stiftete. In einem schwachen Augenblick schwatzte Heymann seinem Helden das private Film- und Foto-Archiv ab. Grieselige Aufnahmen vom jungen Naharin bei der israelischen Armee, bei Martha Graham und Maurice Béjart. Dazwischen Highlights aus seinen Stücken, die seine Kompanie als unbezwingbar erotischen Kampftrupp präsentieren. Kino choreografiert Tanz: von seiner aufregendsten Seite.
Nicole Strecker

clip des monats: freude
Der Slapstick bezeichnet ursprünglich die Klatsche der Narren. Als Filmgenre wurde er in der Stummfilmzeit populär, geht es doch in entsprechenden Produktionen bisweilen darum, einen Gegner zu verprügeln, ohne ihm ernstlich Schmerzen zuzufügen – also täuschend echt. Der New Yorker Choreograf in Bern, Joshua Monten, fragt sich, warum wir eine so große «Freude» an dieser Form des Stage Fighting empfinden. Selbst wenn er uns die Antwort vorenthält, sein Tanzclip, von Alessandro Schiattarella gedreht, ist köstlich, sein aus einer Ohrfeige entwickeltes Bühnenstück ist wieder in St. Gallen, Lokremise, am 21. Mai zu sehen.

dvd: la reine morte
Respekt. Jetzt hat Kader Belarbi, einst Étoile der Pariser Oper und seit 2012 Ballettdirektor in Toulouse, bereits seine dritte dort produzierte DVD mit eigener Choreografie vorgelegt. Nach einem als Actionfee-Märchen arabisierten «Corsaire» und einer flotten «La Belle et la Bête»-Fassung ist nun der Abendfüller «La Reine Morte» von 2011 erschienen. Belarbi bearbeitet eine portugiesische Legende, aus der schon Henry de Montherlant 1942 die gleichnamige Tragödie für Jean-Louis Barrault und Madeleine Renaud verfertig-te. Sie erzählt die Geschichte einer Hofdame, Inês de Castro, die im
14. Jahrhundert den späteren König Pedro I. liebte, während dessen Vater Alfonso IV. (hier Ferrante genannt) für ihn eine spanische Infantin als Gattin vorsah und Inês deshalb töten ließ. Als Pedro König wurde, befahl er, die tote Geliebte zu exhumieren und in einer makabren Zeremonie zur Herrin von Portugal zu krönen.

Historisch ist das zweifelhaft, doch Kader Belarbi erzählt die Fabel sehr flüssig, wenn auch ohne großen Tiefgang oder Eigensinn. Fetzen aus sinfonischen Dichtungen Tschaikow-skys sorgen dafür, dass musikalisch keiner fremdeln muss. In einer raffiniert schlichten Ausstattung wird intensiv getanzt und gespielt. Der harsche Herrscher (Artjom Maksakov), die lyrische Liebhaberin (Maria Gutierrez), der temperamentvolle Thronfolger (Davit Galstyan) und die Infantin (Juliette Thélin) erfüllen alle Klischees – und füllen sie trotzdem mit Leben.
Manuel Brug

Kader Belarbi: «La Reine Morte»; opusarte.com

buch: moving together
Warum war Brüssel in den 1990er-Jahren so ein vitales Kraftzentrum des Tanzes? Schlagwort: «Reflexive dance». So nennt der Sozialtheoretiker Rudi Laermans das Phänomen, das er in «Moving Together. Theo-rizing and Making Contemporary Dance» untersucht. Dazu nimmt er Stücke von Anne Teresa De Keersmaeker, Meg Stuart, Jérôme Bel und anderen unter die poststrukturalistische Lupe. Laermans unterstreicht die Bedeutung von Historizität und Performativität und skizziert, wie Künstler an die zuvor vom Judson-Kollektiv formulierten Grundposi-tionen anknüpften.

Daneben widmet sich das Buch dem prozessualen Aspekt des Tanzschaffens und der Praxis gemeinsamer Autorenschaft. Tänzer wie Choreograf, so argumentiert Laermans, bewegen sich innerhalb der Grenzen ihres jeweiligen Selbstbildes und arbeiten, oft in prekären Strukturen, für einen Kunstmarkt, der seinerseits nur begrenzte Kreativräume bietet. Den Schritt hin zu bewusst gemeinschaftlich-demokratischen Schaffensprozessen betrachtet Laermans mithin als natürliche Entwicklung. Trotz des zumeist nüchtern-diskursiven Analyse-Tons ist «Moving Together» ein von der Leidenschaft seines Verfassers grundiertes Buch: Die Liebe des Tanz-Enthusiasten Laermans zu den Künstlern – insbesondere Brüsseler Provenienz – ist durchweg zu spüren.
Lizzy Le Quesne

Rudi Laermans: «Moving Together. Theorizing and Making Contempo-rary Dance», Valiz Publishers, Amsterdam 2015; valiz.nl

cd des monats: swan lake light
Die Zeit vergeht wie im Flug, und bereits nach einer Stunde verebben die aufgepeitschten «Schwanensee»-Wogen mit sanften Streichakkorden. Wie das? Kristjan Järvi, jüngster Spross des Stardirigenten Neeme Järvi und derzeit Chef des MDR Sinfonieorchesters, bringt das Kunststück fertig, das vieraktige Ballett einzukürzen, ohne dass die verzauberten Vögel deshalb Federn lassen müssten.

Man hat vielmehr den Eindruck, alles gehört zu haben, was Tschaikowsky zu sagen weiß, und das auf eine Art und Weise, die das Publikum ganz offensichtlich begeistert. Auf der CD ist ein Live-Mitschnitt seiner Konzert-Suite zu hören, aufgenommen erst vor wenigen Monaten in der Stuttgarter Liederhalle, und die lässt einen die Geschichte von Odette und Siegfried so miterleben, wie sie gedacht ist: als «Swan Lake» light, aber gleichzeitig mit einer dramatischen Wucht, die einem den Atem verschlagen könnte, wäre da nicht der junge, rumänische Konzertmeister Vlad Stanculeasa, der seiner Sanctus Serafin geradezu schwelgerische Geigentöne entlockt. Nicht zuletzt auch seinetwegen hat Kristjan Järvi viele Abschnitte der Partitur wieder aufgemacht, die bei Ballettaufführungen für gewöhnlich gestrichen werden. Und das macht letztlich die Aufnahme einzigartig.
Hartmut Regitz

Peter Tschaikowsky: «Swan Lake», arrangiert und dirigiert von Kristjan Järvi; Gstaad Festival Orchestra; sonyclassical.de

ratgeber: ernährung für tänzer
Der Tänzer ist, was er isst. Selbst wenn sich sein Künstlertum am Ende doch etwas komplexer darstellt, spricht einiges für dieses Diktum. «Tanzen braucht Energie», heißt es gleich zu Anfang in «Ernährung für Tänzer», also stellen Liane Simmel und Eva-Maria Kraft erst einmal die entscheidenden Energielieferanten vor: Kohlehydrate, Fett, Eiweiß, Vitamine, Mineralstoffe und Co. Klar, Grundlegendes liest sich nicht so einfach und ist auch nicht leicht zu verdauen. Doch wer sich vom Nahrungs- bis zum Stoffwechsel-Kapitel durchgearbeitet hat, findet genügend Tipps, die eigene Leistungsfähigkeit durch gezielte Ernährung abzusichern oder gar zu erhöhen. Dazu gehören das richtige Trinken zur rechten Zeit, das Frühstück als Starthilfe, die Hauptmahlzeit als Basis des eigenen Wohlbefindens sowie schnelle Snacks für Zwischendurch.

Liane Simmel, tamed-Gründungsmitglied (tanz 2/16), und Eva-Maria Kraft, diplomierte Ernährungstrainerin, haben Tanzerfahrung, und davon profitiert ihr praxisorientiertes Buch sichtlich. Thematisiert werden alle Alltagsaspekte, dazu «Essstörungen» wie Magersucht oder Bulimie, auch Vorbeugung und Erkennung solcher «leichtwiegenden» Erkrankungen. Im Anhang finden sich außer dem obligatorischen Literaturverzeichnis und empfehlenswerten Internetlinks auch Anlaufstellen bei Essstörungen. Amüsante Illustrationen von Anna Holter machen das Buch tatsächlich zu einem «Augenschmaus».
Hartmut Regitz

Liane Simmel, Eva-Maria Kraft: «Ernährung für Tänzer», 168 S., Leipzig 2016; seemann-henschel.de

neuauflage: isadora duncan
Manche Bücher gehören zum literarischen Inventar des Tanzes, so wie Nietzsche zum Kernbestand der Philosophie zählt. «My Life», die 1927 kurz nach ihrem Unfalltod veröffentlichten Memoiren der Jahrhundertwende-Ikone Isadora Duncan, sind so ein Fall. So wenig wie andere Autobiografien erzählt diese Lebensbeschreibung von eigener Hand die Wahrheit, und nichts als die Wahrheit über die Verfasserin. Aber sie liefert das lebendige Porträt einer leidenschaftlich rebellischen Künstlerin, deren empathische und emphatische Darbietungen den Keim der Moderne aus dem Geist der Antike gebaren.
1928 erstmals ins Deutsche übertragen, wurden dem Buch etliche Editionen zuteil. Der Berliner Parthas Verlag hat es nun neu übersetzen lassen, mit «I‘ve only danced my life» betitelt – und die Chance vertan, dem Lesepublikum die ganze Duncan vor Augen zu führen. Exemplarisch dafür stehen die Auslassungen des Vorworts, das sich im Original ausführlich mit dem Dichter Gabriele d‘Annunzio, der Schauspielerin Eleonora Duse und deren Folie à deux auseinandersetzt. Nicht umsonst, denn die Duse ist der einzige Mensch, der Isadora trösten kann, nachdem ihre beiden Kinder ertrunken sind. Diese Seelennähe erschließt sich nur vor dem Hintergrund der einleitenden Passagen zur Gänze. Dass die Übersetzerin Ute Astrid Rall das Geschehen nach 1921, das Duncan nicht zu Papier gebracht hat, im Nachwort aufrollt, tröstet über derlei Lücken hinweg.
Dorion Weickmann

Isadora Duncan: «I‘ve only danced my life», Berlin 2016; parthasverlag.de

katalog: william forsythe
Bei einer Begleitdiskussion zu seiner Ausstellung «The Fact of Matter» (tanz 12/15) im Frankfurter Museum für Moderne Kunst (MMK) sagte William Forsythe, er sei froh, dass in Deutschland Vermittlungsangebote so gut liefen und rund um die Kunst von Wissen die Rede sei, während er in den USA einen unguten Anti-Intellektualismus beobachte. Forsythe selbst hat zwar in den letzten Jahren zu seinen Stücken nur die Titel mitgeteilt und kaum Interviews gegeben, aber mit der CD-Rom zu den Improvisation Technologies und dem netzbasierten Motion-Bank-Projekt zum Verstehen beigetragen. Auch die Ausstellung gehört in diese Reihe, sie wird nun durch einen Katalog ansatzweise fotografisch dokumentiert. Darin findet sich auch ein lesenswertes Gespräch, in dem Forsythe und MMK-Kurator Mario Kramer die Gedankenwege beharken, die sie mit neun «Choreographic Objects» durch das verwinkelte Haus führten, sowie einigen Skulpturen, Fotos, Videos, Installationen aus der Sammlung des MMK. Diese «kontrapunktischen» Nachbarschaften nennt Forsythe die «Fortsetzung einer kompositorischen Praxis», bei der die «choreografische Anordnung» des Ganzen «eine Art Partitur (sei), durch die das Publikum sich frei bewegen kann». Denn: «Bewegung ist Wissensgenerierung».
Melanie Suchy

Susanne Gaensheimer, Mario Kramer (Hg.): «William Forsythe. The Fact of Matter»; Deutsch, Englisch, 92 S., Bielefeld 2016; kerberverlag.com


Tanz Mai 2016
Rubrik: Medien, Seite 60
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