Erschüttert sein

Er hat die Matrix des antiken Theaters erkundet – und die Radikalität des Tanzes erfasst. Zum Tod von Hans-Thies Lehmann eine Würdigung

Zuletzt träumte er von einer «Philosophie des Theaters». Angelegt war sie in seinem Monumentalwerk «Tragödie und dramatisches Theater» 2013. Der Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann, der in Gießen und später in Frankfurt/Main lehrende Autor des in über zwanzig Sprachen verfassten Buchs «Postdramatisches Theater», war ein großer Aufräumer, was die Mythen des Theaters betraf. Seit je ist die Mehrheit davon überzeugt: Theater basiere auf einem Text und erzähle eine Geschichte.

Dabei handelten die antiken Geschichten allein von der «Hybris des tragischen Helden, von seiner Einseitigkeit, seinem Tanz und Exzess», so Lehmann. Er folgerte: Hybris, Tanz, Exzess – gegen ein solches Verhalten habe man neue Theater im Namen der Aufklärung, der Bildung und der moralischen Erziehung erbaut. Denn Hybris, Tanz, Exzess «muss und kann im Denken überwunden und auf Dis-Tanz gebracht werden. Die heroische Haltung muss nicht mehr exzessiv, sondern am Ende maßvoll, nämlich: denkbar sein, kompatibel dem Begrifflichen, um sie philosophisch einzuholen.»

«Unproduktive Verschwendung» nannte Hans-Thies Lehmann das Wesen der Tragödie, des Theaters, des Tanzes: die Pracht, die Überschreitung, der ...

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Tanz Oktober 2022
Rubrik: Abschied, Seite 18
von Arnd Wesemann

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