das grand jeté

Raus aus Mitte, weg von den Linden, in den Berliner Westen, an einen Ort für die Staatsballett-Tänzer, der sauber, modern, spurenfrei ist, mit Glasdach und aus einem Guss.

Die Fensterrahmen in den Garderoben der Tänzerinnen sind lange nicht gestrichen worden, die Gardinen hängen schlapp, Gittertüll, war mal begehrt, war mal modern, irgendwann in den Sechzigern. Das Tutu auf dem Fensterbrett, fröhlich aufgeplustert, touchiert die müde alte Gardine in gewohnter Vertrautheit, Tüll zu Tüll, Berührung in Geborgenheit, «Schwanensee» forever, fünfundzwanzig Meter Tüll werden vernäht für ein einziges Tutu. Das halbe Fenster gibt den Blick auf den Dachgarten frei, auf dem sich eine propere Putte an einen barocken Zierpott schmiegt.

Die Schichten der Geschichte verschmelzen zu einer Patina aus Stuck, Blattgold und Plaste. Knobelsdorff-Architektur, Paulick-Rekonstruktion, DDR-Gebrauchs­ästhetik. Die Zeit fließt, sie schließt ihre Bünde im Licht eines frühen Morgens oder eines späten Nachmittags, wenn sie sich verbrüdert mit dem Vergehen. Komplizenschaft der Epochen. Wer hat das Tutu, den weißen Traum von Schweben und Hoffen, wer hat das Tutu da hingelegt? Beatrice Knop, Polina Semionova oder Elisa Carrillo Cabrera – wer war die zufällige Arrangeurin der poetischen Mitteilung?
 
Kerstin Zillmer, die Fotografin, ist die Entdeckerin dieses Stilllebens kurz vor dem ...

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Tanz Dezember 2010
Rubrik: bewegung, Seite 4
von Jutta Voigt

Vergriffen
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