CD, DVD, Buch 11/18

Tanz

Bildband: Tango

«Lost in Tango» ist eine Liebeserklärung an den Tango, aber auch die Geschichte des Sohnes, in Erinnerung an seinen Vater Klaus Hympendahl. Eingerahmt von Prolog und Epilog berührt der Bildband zahlreiche Aspekte – von der Geschichte des Tango bis zur Milonga, dem Ort, an dem Tango getanzt wird. 

Im Prolog berichtet Klaus Hympendahl, ein großer Abenteurer und Segelprofi, wie er erst sehr spät im Leben seine Liebe zum Tango entdeckt hat – eine Liebe, die ihn bis zu seinem Tod nicht mehr losgelassen hat.

In den letzten zehn Jahren seines Lebens ist die Entdeckung dieses Tanzes für ihn eine Epiphanie. Er begreift, dass es Tänze gibt – und den Tango. «Tango es la vida», Tango ist das Leben. 

Hympendahl sieht eine Wirklichkeit, die der Realität der Straße den Rang abläuft. Eine gewagte und eigentlich nicht haltbare These, wären da nicht die großartigen Fotostrecken des Sohnes, der aus sehr distanzierter, beobachtender Position heraus den Tanz, die Paare, die Sehnsucht und das Licht einzufangen weiß. Die Blicke der Menschen auf den Fotos berühren tief und entlasten die tango-seligen Texte des Vaters, der zu erklären sucht, was nicht zu erklären ist. Dennoch entwickelt das Buch eine große Nähe zum Moment, lässt fühlen, dass der Tango eine Brücke zu etwas Größerem ist, das sich den Worten entzieht. Im Epilog beschreibt der Sohn, Philipp Hympendahl, die Sehnsucht des Vaters sehr präzise. Das ist packend. Er umarmt mit diesem Buch seinen Vater und auch: den Tanz.

Joachim Schloemer

Klaus und Philipp Hympendahl: «Lost in Tango: Eine Reise», 2018; www.heel-verlag.de 

DVD: Durch Gärten tanzen

«Durch Gärten» nannte Tatjana Barbakoff ihren Lieblingstanz. «Durch Gärten» nennt Oxana Chi ihr zu Ehren eine Choreografie, die keine Rekons-truktion sein will, keine Rekonstruktion sein kann. Es haben sich keine Aufzeichnungen erhalten, keine Notationen, keine Filme. Die Einzigartigkeit ihrer Kunst lässt sich allenfalls aus hymnischen Kritiken herauslesen. Und aus den Bildnissen so namhafter Zeitgenossen wie Otto Dix, Minya Dührkoop, Willy Maywald, Christian Rohlfs, Gert Wollheim oder Yva erahnen. «Ich tanze quasi in Öl und bin zur tanzenden Muse geworden», schreibt Barbakoff 1928 nach einem Auftritt im Stadttheater Konstanz nicht ohne ironischen Unterton. 1899 als Tochter einer chinesischen Mutter und eines russisch-jüdischen Vaters im lettischen Aizpute geboren, fühlt sie sich früh durch die politischen Entwicklungen in ihren Entfaltungsmöglichkeiten eingeengt. Anfang 1944 wird Tatjana Barbakoff von der Gestapo an der Côte d’Azur aufgegriffen, wenige Tage später in Auschwitz ermordet.

Der Film «Durch Gärten tanzen» von Oxana Chi und Layla Zami will die Erinnerung an eine fast vergessene Ausdruckstänzerin wachhalten. Das geschieht hier nicht auf die übliche Weise, sondern einfühlend in Form einer überaus persönlichen, poetischen, dabei reich facettierten «Rétrospective emotionelle», die nicht zuletzt im Werk der Wahlverwandten das Wesenhafte einer Tatjana Barbakoff erspürt. Und das greift tiefer, als es eine bilderreiche Doku je vermag.

Hartmut Regitz

Oxana Chi, Layla Zami: «Durch Gärten tanzen»; www.fembooks.de


Überblick: Romantisches Ballett

Die romantische Epoche ist quasi zum Synonym der Balletttradition geworden und schon deshalb wissenschaftlich gut ausgeleuchtet worden – und trotzdem selten so intensiv, wie es die Literaturwissenschaftlerin Bénédicte Jarrasse für ihre Doktorarbeit unternommen hat. Zehn Jahre lang hat Jarrasse an «Les deux corps de la danse» gesessen, um nachzuzeichnen, wie das Ballett zwischen 1830 und 1870 als eigenständige Kunstform neben das Musiktheater gesetzt, ja phasenweise sogar in den Vordergrund geschoben wurde. Die Autorin, die sich mit dem tausend Seiten starken Überblick eine außerordentliche Professur in Straßburg erschrieben hat, fächert die ästhetischen, literatur-, kunst- und sozialgeschichtlichen Stränge so klug auf, dass ihr auf Anhieb ein Standardwerk gelungen ist. 

Der beste Umgang damit ist vermutlich eine Art Bedarfslektüre. Wer zum Beispiel etwas über die legendären «rats» der Pariser Oper, die Ballettratten also, wissen will, schlägt am besten beim einschlägigen Kapitel über die kindlichen Geschöpfe nach. Von hier aus kann er direkt zur nächsten Alterskohorte weiterblättern, zu den «marcheuses» der Statisterie, die am Ballerinen-Glamour à la Marie -Taglioni allenfalls nippen durften. 

Mit Blick fürs Detail erschließt Jarrasse den ganzen romantischen Kosmos einschließlich Werken, Künstlern und Motivketten. Ihr Buch ist ein rundum empfehlenswerter Cicerone in historisches Gelände.   

Dorion Weickmann

 

Bénédicte Jarrasse: «Les deux corps de la danse», Paris 2018; www.cnd.fr 


Virtual Reality: Half Life

heißt die faszinierende Choreografie von Sharon Eyal und Gai Behar, die 2017 beim Königlich Schwedischen Ballett in Stockholm herauskam und zuletzt am Staatsballett Berlin zu sehen war. In beiden Fällen wird das Ensemble zu einem organischen Wesen mit tanzenden Tentakeln (tanz 10/18). 

Daraus lässt sich mehr machen, befand Nicolas Le Riche, Stockholms frisch gebackener Ballettchef, und ließ vergangenen Herbst das schwedische Filmstudio Robert & Robert der tanzenden Phalanx eine Kamera hinzufügen, die die schwer arbeitenden Tänzer, ihre schaufelnden Glieder und die motorische Präzision ihres Raves gefilmt hat. Ein mit VR-Brillen ausgestattetes Publikum sieht diese Bilder nicht mehr in sicherer Distanz zur Bühne, sondern befindet sich mitten unter dem tanzenden Dutzend, im virtuellen Zentrum dieses realen Kraftwerks aus Variationen und Fugen. «Half Life VR» tourt mehr und öfter als das Original, zuletzt auf Tanzfestivals in Lyon und Venedig, derzeit in Asien. Auch wenn das Vergnügen nur zwölf Minuten dauert, sieht man die Tänzer so nah, dass man erkennen kann, wie der Schweiß aus ihren Poren rinnt.

Arnd Wesemann

www.operan.se/en/repertoire/half-life-vr
 

Clip des Monats: I could have ...

Ein russisches Mietshaus. Ein enger Flur. Sie, Evgeniya Mandzhieva, verlässt die Wohnung. Klopfgeräusche begleiten ihren Gang. Verfolgt wird sie von Alexey Takharov. Der Tänzer eilt ihr nach als sympathisch zuckendes Wesen, ein spastischer Dämon auf biegsamen Beinen mit flatternden Fingern. Er klammert sich an ihre Beine. Nichts hält sie auf. Takharov, Absolvent der Moskauer Filmschule, und die Regisseurin Anna Galinova wurden für «I could have» zuletzt in Chile und in Berlin ausgezeichnet: wegen hoher Spannung, präziser Choreografie und klarer Bildführung. Bekannter ist Takharov als «Adidas»-Ikone für den Werbeclip «Wake up». Aber das Tanzfach liegt ihm näher. 

Den Clip sehen Sie auf
https://www.youtube.com/watch?v=QM3yvVWXWAM&feature=youtu.be

 

Interviews: Koffi Kôkô

ist ein zeitgenössischer Tänzer von Weltruf. Als spirituelles Oberhaupt hütet er einen Tempel. Kôkô ist ein «Dah», um jetzt nicht das katholische Wort «Priester» in den Mund zu nehmen. Bereits seit 1987 begleitet Johannes Odenthal den in Ouidah im westafrikanischen Ghana (und in Paris) lebenden Tänzer und führte immer wieder Interviews mit ihm. Koffi Kôkô spricht darin über seine Tanzkunst, den Kolonialismus und die afrikanische Religion des «Vodon», um jetzt nicht das Wort «Voodoo» in den Mund zu nehmen. Erst ein Glossar am Ende des Bandes schafft etwas Klarheit. Viele Interviews entstanden, als Johannes Odenthal Herausgeber zweier Vorgängerinnen dieser Zeitschrift war (von 1986 bis 1997): Kluge Fragen und lebenskluge Antworten schärfen den Blick für den missionierten und kolonialisierten Kontinent und die Widerständigkeit von Kôkô, dem «Initiierten». Odenthal nennt ihn so. Auch ihm selbst wird die Ehre einer Initiation zuteil. Warum, weshalb, wozu, sagt er so wenig, wie ihm nur vage und wenig anschaulich die tagebuchähnliche Ich-Erzählung gelingt. Faszinierender sind die von großer Anschaulichkeit und Klarheit geprägten zehn Interviews, die Zeugnis geben vom klugen Denken in einem Afrika, das den Tanz als eine Lebenskunst betrachtet.

Arnd Wesemann

Johannes Odenthal: «Passagen. Der Tänzer Koffi Kôkô und die westafrikanische Philosophie des Vodun», Berlin 2018; www.alexander-verlag.com

Interaktiv: Fugue VR, réalité mixte

Der Choreograf Yoann Bourgeois hat sich in seiner «Fugue»-Serie zu Bach immer wieder als Trampolin-Artist, also schwebenden Liebhaber der Schwerkraft inszeniert. Nun hat er sich mit Michel Reilhac zusammengetan, der bis 2012 die Filmabteilung bei Arte leitete und heute in Amsterdam interaktive Plattformen produziert. Reilhac hat ein 360°-Epos aus «Fugue/Trampoline» von Bourgeois gebastelt, das über VR-Brille und Kopfhörer zu rezipieren ist. Darin taucht der Akrobat ab und zu überraschend nach unten, was unter den Füßen der Leute, die mit Immersions-Geräten bestückt im Kreis stehen, einen virtuellen Abgrund aufreißt. Das Interaktive dieser «Fugue VR/Réalité Mixte», vom 16. bis zum 18. November im Théâtre de Liège, beschränkt sich allerdings auf die Möglichkeit, den Kopf zu drehen oder zu senken – da hätte mehr drin sein können. 

 

Thomas Hahn


CD des Monats: Histoire du soldat

«Zwischen Chur und Walenstadt heimwärts wandert ein Soldat.» So heißt es gleich zu Beginn in der deutschen Übersetzung. Vor genau hundert Jahren, bei der Uraufführung der «Histoire du soldat» in Lausanne, war besagter Mann noch zwischen «Denges et Denezy» unterwegs – was nicht nur um einige Kilometer kürzer war, sondern auch in den Ohren waadtländischer Zuhörer um einiges vertrauter klang. 

Ganz folgerichtig greift Jean-Christophe Gayot als Dirigent der «Édition du Centenaire» auf das Originalskript zurück und lässt die drei Protagonisten von der Comédie-Française so zu Wort kommen, wie sich das Charles Ferdinand Ramuz und Igor Strawinsky einst erdacht hatten: schon durch ihre Stimmlagen der Musik entsprechend und sich so in sie einfühlend, dass sich nicht nur das Geigenspiel von Olivier Charlier aus dem sprachlichen Rhythmus heraus entwickelt (und umgekehrt). Denn so einfach, wie einem die «Geschichte» bei der ersten Begegnung erscheinen mag, ist sie nicht. Vielmehr entfaltet sich hier der Reichtum des «armen Theaters» auf ebenso holzschnittartige wie hintergründige Weise – hörbar gemacht in einer exemplarischen Einspielung, die das Faust-Drama en miniature in den Rang eines Meisterwerks erhebt.

Hartmut Regitz

Igor Strawinsky: «Histoire du soldat», Didier Sandre, Denis Podalydès, Michel Vuillermoz, Olivier Charlier, Musikalische Leitung: Jean-Christophe Gayot; www.harmoniamundi.com 


Tanz November 2018
Rubrik: Medien, Seite 62
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