Solidarisch

Mario Schröder verabschiedet sich mit dem romantischen Klassiker «Giselle» aus Leipzig und konzentriert sich dabei ganz auf seine Titelheldin

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Giselle ist tot. Und zwar gleich vom ersten Bild an: keine romantische Träumerei, kein Getändel, keine unstandesgemäße Liebe, kein Verführer Albrecht und keine dörfliche Szenerie.

Die Heldin ist tot, und Mario Schröder fragt in seiner letzten Arbeit nach 15 Jahren als Leipziger Ballettdirektor, wo sie sich jetzt eigentlich befindet: «Wo ist Giselle?» wird als zentrale Frage im Programmheft formuliert, «Wer ist sie? Wohin ist sie gegangen?» Und die Antwort, die Schröder gibt, ist im Grunde gar nicht so weit weg von Vorgängerversionen aus der Jahrhundertwende: in einer Zwischenwelt, bestehend aus Tanz, aus Musik, hier nicht zuletzt aus Bildern. Zwar wird diese Welt auch in Leipzig bevölkert von den Wilis, Geisterwesen, die die betrogene Heldin rächen wollen, aber eine das Stück prägende Funktion haben sie nicht mehr. Stattdessen ermöglicht die Zwischenwelt Giselle eine Selbstermächtigung, einen Ausbruch aus den Konventionen, die einer Frau ausschließlich das Lebensmodell Ehe anbieten. Im «Giselle»-Original von 1841 bedeutet die Tatsache, dass dieses Modell der Titelheldin verweigert wird, ihr Todesurteil. Der Abend in Leipzig aber gräbt tiefer: «Es geht um eine Frau, die versucht, sich zu befreien, aber daran scheitert», meint Schröder. «Es geht um eine Frau, die von der Gesellschaft unterdrückt wird.»

Reise durch Lebensmodelle
«Giselle» ist an der Oper Leipzig also eine Emanzipationsgeschichte, und weil die reale Welt eine solche Selbstbefreiung verhindert, verzichtet Schröder fast vollkommen auf reale Bezüge. In einer so lustigen wie fein choreografierten Szene wird der Bezugsrahmen aufgemacht, in dem sich die Figuren bewegen, das muss als soziale Verortung reichen. Die Darsteller*innen also ziehen bedruckte T-Shirts an und aus und tanzen so kurze Statements ins Publikum: «Feminin», «Liebe», «Angst», «Macht». Das ist szenisch hübsch gelöst, wenn auch inhaltlich ein bisschen überdeutlich, aber es hilft dem Abend, sich in der Folge auf die Abstraktion zu konzentrieren: Was zu sagen ist, ist gesagt – also kann man Giselle jetzt auf ihre Reise durch die Lebensmodelle schicken, ohne dass es ein echtes Gegenüber gibt, an dem sie sich abarbeiten müsste.

Yun Kyeong Lee tanzt das mit beeindruckender Präsenz, zunächst im klassischen Stil, später dann zunehmend autonom. Das ist tänzerisch spannend, weil sie gerade in den ersten Szenen beweist, was sie kann, mal eine gleichzeitig anmutige wie aggressive Batterie, mal eine angedeutete Pirouette. Tanz als Ausprobieren der Posen, zunächst barfuß, zunächst im Tutu, das bald abgeworfen und durch andere Kostüme (Ausstattung: Paul Zoller) ersetzt wird – ein Sportdress, eine Hose. Auf der Inhaltsebene fehlt Yun Kyeong Lee, die auf dem Abendzettel als «Giselles Seele» vorgestellt wird, ein wenig das Gegenüber, was für das choreografische Konzept durchaus stimmig ist. Schade allerdings: Das übrige Ensemble wird hier vollständig ins Corps de ballet verbannt, auch wenn es immer wieder eindrucksvolle Solo- und Duopassagen zu bewundern gibt, beispielsweise von Madoka Ishikawa. Aber Schröder will eben konsequent «Giselle» aus feministischer Perspektive erzählen, und dieser Perspektive ordnet er alles unter: neben der Titelrolle ausgearbeitete Figuren ebenso wie den Aufbau der Ursprungschoreografie. Die im Original reizvolle Gegenüberstellung von Diesseits und Jenseits ist noch zu erahnen, wirklich gezeigt wird sie nicht. Wer ein Ballet blanc erwartet, bekommt Andeutungen, dem Abend geht es aber um etwas anderes. Dass der Lichteinsatz weite Teile des Geschehens im Halbdunkel verschwinden lässt, ist dann auch nur folgerichtig.

Zusammenspiel von Tanz und Gesang
Dabei arbeitet die Choreografie weiterhin mit Adolphe Adams Komposition, von Matthias Foremny mit Schwung dirigiert. Diese wird allerdings radikal erweitert: durch eigens für den Abend komponierte Vokalstücke des sechsköpfigen Frauenensembles Sjaella, verstärkt durch die Perkussionistin Xizi Wang, die sich alle gemeinsam mit den Tänzer*innen auf der Bühne befinden. Natürlich tanzen die Musikerinnen nicht, aber sie sind performative Elemente, die die Bühne strukturieren: Wang auf beweglichen Podesten, die sie und ihr Schlagwerk über die Szene rollen lassen, die Sängerinnen mal im Bühnenhintergrund, mal in einer Loge, am Ende als riesenhafte Figuren, die schließlich Richtung Himmel wachsen. Es sind atemberaubende Bilder, die im Zusammenspiel von Tanz und live performter Musik entstehen und der Vorlage zu Gegenwärtigkeit verhelfen. Sie sorgen allerdings umgekehrt auch dafür, dass die ursprüngliche «Giselle»-Handlung von Théophile Gautier und Jules-Henri Vernoy de Saint-Georges in diesem Bildertheater kaum noch erkennbar ist.

Freilich: Wo die Abstraktion überhand zu nehmen droht, wo nur noch Ästhetik im Raum steht und kein Inhalt mehr, stellt Lee den Abend wieder vom Kopf auf die Füße. Dann wütet sie, orgiastisch, dionysisch – die Wilis tanzen in dieser Version keine Männer zu Tode, entsprechend bleibt die Verausgabung bei Giselle hängen, und die tut, was sie kann. Lee jedenfalls prägt den zweieinhalbstündigen Abend mit ihrer Performance, ist am Ende aber naturgemäß auch entsprechend aufgelöst. In ihrer Konsequenz ist diese «Giselle» vor allem fordernd. Was sie allerdings nicht ist, trotz aller Schauwerte, trotz aller beeindruckenden Tänzer*innenleistungen: ästhetisch originell. Schröder ist ein handwerklich absolut sicherer Choreograf, er hat szenische Fantasie, er hat den Mut, Konzepte gegen den Strich zu denken, er weiß, wo er sich zurücknehmen muss, um seinen Tänzer*innen ihren Raum zu geben. Er hat eine Haltung. Aber er hat es in seiner Leipziger Zeit nicht vermocht, eine zur Gänze unverwechselbare choreografische Sprache zu entwickeln. Auch dieser Abend ist, so radikal zeitgenössisch er auch wirken mag, vor allem zusammengesetzt aus Versatzstücken: Es gibt viel Klassik und Neoklassik, was zeigt, wie leichthändig Schröder auch eine ganz traditionelle «Giselle» hätte arrangieren können, wenn er gewollt hätte. Es gibt Ausbrüche in die Moderne. Und hin und wieder schlägt auch eine zeitgenössische Ästhetik durch, mit abgehackten, streng geometrischen Bewegungen, die an Marco Goecke denken lassen. Wobei der Vergleich mit Goecke nicht unbedingt zu Schröders Ungunsten ausfällt: Das, was hier in Leipzig entstanden ist, mag nicht die originellste aller Tanzkünste sein, es läuft aber auch nicht Gefahr, in Posen und Manierismen zu erstarren. Man merkt: Hier ist ein Künstler, der sich interessiert für das, was um ihn herum passiert, und der auch bereit ist, Einflüsse aufzunehmen und zu verarbeiten. Dieses Interesse, diese Offenheit sind das, was wichtig ist, nicht die eigene Unverwechselbarkeit.

Bei «Giselle» interessiert Schröder das Hinterfragen und die Dekonstruktion einer unter geschlechterpolitischer Perspektive nicht unproblematischen Vorlage. «Emanzipation und Solidarität mit Frauen, Gewaltstrukturen und Repressionen im Patriarchat», entdeckt Dramaturg Thilo Reinhardt laut Programmheft im Libretto von «Giselle». «Femizid. Der Einfluss von Rollenbildern, ‹richtigen› Frauen und Männern, Mansplaining.» Man kann natürlich einwenden, dass diese Dekonstruktion selbst ein Stück weit mansplaint, wenn das gesamte Leitungsteam männlich gelesen ist. Dramaturg Reinhardt, Ausstatter Zoller, Dirigent Foremny, vor allem Choreograf Schröder erklären, wie man sich unter feministischen Vorzeichen einem schwierigen Frauenbild nähert (und ein ebenso männlich gelesener Journalist deutet diese Erklärung dann als latent problematisch) … so ließe sich das verstehen, wenn man dem Abend Böses wollte. Man könnte aber auch konstatieren, dass Schröder ein Problemfeld ausgemacht hat und dieses Problemfeld mit allen Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen, bearbeitet. Seine «Giselle» wäre dann ein Akt der Solidarität, und der Choreograf erwiese sich als Alliierter, der seine Mittel und seine Position dafür einsetzt, sich auf eine Seite zu schlagen. Dass der Abend darüber hinaus auch noch großartig aussieht, ist ganz sicher kein Fehler.

Wieder am 1., 9., 12. und 29. Juni; www.oper-leipzig.de


Tanz Juni 2024
Rubrik: Produktionen, Seite 10
von Falk Schreiber

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