Utopien

Vielfalt lautet das Stichwort, nicht erst seit gestern. Schon die Gründung der Zeitschrift war eng damit verknüpft, wie Johannes Odenthal erinnert

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Im Editorial der ersten Ausgabe der Zeitschrift «ballett international/ tanz aktuell», später zu tanz umfirmiert, heißt es im Januar 1994: «Wir sprechen von einer Krise der Theater. In Wirklichkeit handelt es sich um eine gesellschaftliche, politische, wirtschaftliche Krise, oder besser: um einen Umbruch unseres Wertesystems, unserer Lebensbedingungen in Ost und West. In Zeiten des Umbruchs übernimmt die Kultur eine Schlüsselrolle.

Gefordert sind Verantwortung und Risikobereitschaft, die Fähigkeit zum Dialog und zum Konflikt, neue Möglichkeiten der Identität. Für die Verhandlung dieser Werte hat jede Gesellschaft öffentliche Orte geschaffen, die demokratische Gesellschaft das Theater.»

Inspiriert waren diese Sätze von einer Rede «Zur Erfindung der Zukunft» des amerikanischen Regisseurs Peter Sellars: «Ich glaube, dass wir mit der ganzen Welt in einer Situation sind, in der wir für die nächsten zehn Jahre keine Lösungen haben … Was wir haben, sind zehn Jahre, in denen wir einfach versuchen müssen, das Problem zu diskutieren. Was sind die Werte unseres Lebens? Was ist uns wichtiger: Splitterbomben herzustellen oder in Schulbücher zu investieren? Was sind unsere Prioritäten?» Hintergrund für diese Stimmungslage waren unter anderem das Ende des Kalten Krieges und der Erste Golfkrieg 1991 zur Befreiung Kuwaits von der irakischen Besatzung, ein geopolitischer Wendepunkt, der auch Europa beschäftigen wird. Höhepunkte der neuen Situation sind der Zweite Golfkrieg 2003 und die aus dem Machtvakuum entstandene Terrororganisation Islamischer Staat sowie die Destabilisierung des Nahen Ostens.

Die neu gegründete Zeitschrift basierte auf der Fusion der beiden Zeitschriften «tanz aktuell» und «ballett international», was sich bereits in dem umständlichen Titel ausdrückte. Rolf Garske, der Gründer und Geschäftsführer von «ballett international», musste aus gesundheitlichen und wirtschaftlichen Gründen die Zeitschrift verkaufen. Während der Übernahmeverhandlungen zwischen ihm und dem Verleger Erhard Friedrich kam es auch zum Gespräch zwischen Friedrich und «tanz aktuell», dessen Verleger und Herausgeber ich seinerzeit war. Wir entschieden uns sehr schnell für die Fusion der beiden Zeitschriften. Die eigentliche Aufgabe war, zwei Vorstellungen von Tanz zusammenzuführen. Ich selbst behielt auch für die neue Zeitschrift die redaktionelle Verantwortung, in das Herausgeberteam wurde neben dem Verleger und mir Horst Koegler berufen, um die Welt des Balletts in der Zeitschrift auch wirklich repräsentiert zu finden. «tanz aktuell» stand für Diskurse zu Körper und Tanz, für die somatischen Forschungsansätze, für die radikale zeitgenössische Tanzkunst; «ballett international» für die etablierten Häuser, die Abbildung der internationalen Szene.

Ausgetragen wurde der Konflikt exemplarisch in der Entscheidung für das erste Cover. Ich hatte mich für eine Fotografie der englischen Tanzkompanie DV8 entschieden, in deren Produktionen das Bild der Mainstream-Körper radikal aufgebrochen wurde, die verborgenen Seiten von Existenz offen lagen. Mit dem Begriff des «Physical Theatre» hatte DV8 bewusst Abstand genommen vom klassischen Körperverständnis im Tanz. In der damals aktuellen Produktion «MSM» thematisierte Lloyd Newson das gesellschaftliche Tabu-Thema von Sex zwischen Männern auf öffentlichen Toiletten. Das Foto zeigte zwei sich berührende Hände in einem Waschbecken, assoziierte den Bruch zwischen gesellschaftlicher Norm und den verborgenen Strukturen des Begehrens, eine Dialektik von Unterdrückung und Befreiung. Ein entscheidender politischer Hintergrund für die Tanzszene war AIDS geworden, das ähnlich wie Corona dreißig Jahre später die Beziehungen zwischen Menschen massiv veränderte. Längst war der Körper als Politikum entdeckt und erforscht worden.

Zurück zum Titel für die Nummer 1 der neuen Zeitschrift: In einer Notsitzung mit Erhard Friedrich und Horst Koegler wurde das Titelmotiv gekippt – zu konfrontativ für ein breites Publikum! Ich musste mich dem verlegerischen Veto beugen und in wenigen Stunden ein alternatives Motiv finden. Es war eine Fotografie der sehr jungen spanischen Tänzerin und Choreografin Olga de Soto, die ich wenige Wochen zuvor auch auf dem Festival «Klapstuk» in Leuven gesehen hatte. Obwohl ich von ihr als Performerin und Dramaturgin sehr überzeugt war, transportierte das Foto keine radikale künstlerische Auseinandersetzung. Die Weichen für eine Zeitschrift der Kompromisse waren gestellt, obwohl der Zusammenstoß unterschiedlicher Ästhetiken das Heft von Beginn an sehr erfolgreich machte.

Der französische Tanzkritiker Jean-Marc Adolphe schrieb in dieser ersten Ausgabe über einen Paradigmenwechsel in der Tanzszene. Das Thema der Energie, der körperlichen Verausgabung in dynamischen choreografischen Entwürfen bei Anne Teresa De Keersmaeker, Wim Vandekeybus, Édouard Lock mit La La La Human Steps oder William Forsythe wurde seiner Meinung nach abgelöst von einem Körperverständnis, in dem gesellschaftliche Krisen oder Traumatisierungen verarbeitet wurden. Wie kaum eine andere Produktion stand für diesen ästhetischen Wechsel die Produktion «Disfigure Study» von Meg Stuart. Das englische «disfigure» assoziiert den fragmentierten Körper, den entstellten, verdrehten Körper ähnlich der menschlichen Figur in den Bildern von Francis Bacon. Damit wurde ein neues tänzerisches Forschungsfeld eröffnet und zugleich eine Öffnung ästhetischer Ausdrucksformen ermöglicht, so in den Choreografien von Tanzkünstler*innen wie Caterina Sagna, Christian Bourigault, Vera Mantero, Alain Platel, Xavier Le Roy oder Emio Greco. Der Körper wurde zur Plattform individueller und kollektiver Narrative, zum politischen Raum von Widerstand und Kritik oder auch zum Ort der Selbstbehauptung und Heilung. In «No Longer Readymade», das 1993 auf dem «Klapstuk»-Festival in Leuven seine Premiere hatte, wurde der Körper als genau diese Bühne der Erinnerungen gezeigt. Meg Stuart zu ihrem Körperkonzept: «I wanted to reveal another body, not just the centralised body you often see in dance … I wanted to break down the body and make it weak or vulnerable.»

Im gleichen Heft widmete sich Horst Koegler der Berliner Ballettsituation nach der Vereinigung von Ost und West. An die Direktoren der drei Opernhäuser stellten wir die Frage nach der Neuordnung im Nachwende-Berlin. Ein Rückblick auf die Ära von Tatjana Gsovsky sollte eine historische Perspektive einbringen, die für das Neudenken in Berlin hätte bedeutsam werden können. Zugleich fragte ich im Interview mit Johann Kresnik nach den politischen Themen in der Tanzszene, nach den Reaktionsmöglichkeiten des Tanztheaters am Beispiel der Produktionen «Rosa Luxemburg» oder «Francis Bacon» mit Ismael Ivo. Diese Nummer 1 entstand innerhalb weniger Wochen. Die kulturpolitische Herausforderung nach dem Mauerfall war offensichtlich. International stand das Festival «Klapstuk» 1993 exemplarisch für einen ästhetischen Wandel, der von einer dynamisch wachsenden Körperforschung in Theorie und Praxis begleitet wurde.

Damit folgte die Ausgabe in wesentlichen Teilen den Themensträngen von «tanz aktuell». In der letzten Ausgabe «tanz aktuell», einer Doppelausgabe November/Dezember 1993, veröffentlichten wir einen Originalbeitrag des Philosophen Dietmar Kamper über ein «Körper-Denken» gegen ein «Dasein als Bild». Darin beschreibt Kamper die Gegenwärtigkeit des Körpers als Widerstand zur Gewalt der Bildwerdung, als Widerstand gegen das Verhängnis einer körperlosen Gesellschaft. Die abstrakte Welt lässt eine Geistesgegenwart des Körpers immer weniger zu. Geistesgegenwart, so Kamper, scheint nur über eine Körperpräsenz erreichbar zu sein. Flankiert wurde dieser Essay von aktuellen Beiträgen zu Merce Cunningham, Anne Teresa De Keersmaeker und Amanda Miller sowie einer Überblicksdarstellung der Körperarbeit von Bonnie Bainbridge Cohen. Im gleichen Heft interviewte ich Nele Hertling zu den Möglichkeiten neuer Förderstrukturen im Zeitgenössischen Tanz. Inhaltliche Themenstränge für die nächsten 20 Jahre waren angelegt: Der Tanz als innovatives, kritisches und widerständiges Forschungsfeld, das Entstehen einer neuen Wissenschaft, die das Erfahrungswissen des Körpers einbezieht und die Entwicklung neuer Strukturen für den zeitgenössischen Tanz.

In den Folgeausgaben haben wir die Frage nach den Strukturen für den Zeitgenössischen Tanz immer wieder aufgegriffen. Wir haben die Produktionsbedingungen an den etablierten Häusern mit denen der Freien Szene verglichen; im zweiten Heft im Gespräch mit Rhys Martin, Jo Fabian, Jutta Czurda, Claudia Feest und Marta Binetti; in kurzen Porträts von Sasha Waltz, Rubato oder der Tanzfabrik wurden drei unterschiedliche Konzepte alternativer Produktionsweisen in Berlin vorgestellt und mit dem Modell des Ballett Frankfurt oder der Tanzsituation in Großbritannien verglichen.

Von heute aus betrachtet können wir sagen, dass sich die Ressourcen vor allem für die Freie Tanzszene exponentiell verbessert haben. Mehr Räume, mehr finanzielle Förderstrukturen, eine starke Tanzwissenschaft. Wichtiger Motor für neue Bündnisse zwischen Politik und Tanzszene war vor allem der «Tanzplan Deutschland», eine Initiative der Kulturstiftung des Bundes unter Hortensia Völckers in den Jahren 2005 bis 2010, durch die zahlreiche Initiativen ausgelöst wurden, die vor allem im Bereich der Ausbildung, der Vermittlung und des Tanzerbes nachhaltige Impulse setzten.

Die Frage für uns als Zeitschriftenmacher war von Beginn an: Was kann eine Zeitschrift für Tanz überhaupt leisten? In erster Linie natürlich die ästhetischen Entwicklungen einer Szene abbilden, lokale Künstler*innen in einen internationalen Kontext stellen. Aber auch Vermittler sein zwischen Tänzer*innen und Choreograf*innen auf der einen Seite und dem Publikum, der Politik und der Kunstszene auf der anderen Seite. Wo steht der zeitgenössische Tanz im Verhältnis zur Bildenden Kunst, dem Theater und der Musik? Wo wird der Tanz zum Trigger für ein neues Verständnis von künstlerischer Praxis? Noch mehr bewegte uns die Frage: Wo steht der Tanz in der Gesellschaft? Warum besitzt er keine wirkliche Lobby, die groß zu denken vermag, obwohl die Tanzszene auf der anderen Seite Schlüsselkompetenzen für eine notwendige gesellschaftliche Transformation besitzt?

Diese Themen hatten bereits zu Beginn der Gründung von «tanz aktuell» im November 1986 höchste Priorität. «tanz aktuell» war der Versuch, einen Ausdruck zu finden für zahlreiche Initiativen in Tanz, Theater und Performance, die eine radikale Selbstbefragung ins Zentrum ihrer Arbeiten stellten, die sich auf den Bühnen der Stadt- und Staatstheater nicht abbildete. Wir suchten nach einem eigenen Ausdruck der Existenz, der unserer Generation entsprach. Insofern waren die neu gegründeten Zeitschriften «ballett international», «tanz aktuell» oder «Tanzdrama» in den 1980er-Jahren nicht nur Fachorgane für eine künstlerische Entwicklung, sie waren vor allem auch Ausdruck einer kritischen kulturellen und gesellschaftlichen Verortung in der alten Bundesrepublik. Die Zeitschriften hatten einen utopischen Kern, waren Projektionen in eine bessere Zukunft. Und waren dadurch auch immer wieder ideologisch geprägt.

Das war 1994, als die erste Ausgabe der fusionierten Zeitschriften «tanz aktuell» und «ballett international» erschien, nicht anders. Entscheidenden Einfluss auf das kulturelle und gesellschaftliche Leben in Deutschland hatte der Mauerfall 1989, die Wiedervereinigung von Ost- und Westdeutschland 1991 und das damals prognostizierte Ende des Kalten Krieges. Nationale Themen beschäftigten die Politik auch in der Kultur. Aber die Tanzszene wurde zur visionären Plattform einer internationalen Gemeinschaft, geprägt von Migration und Emanzipation. Wie vielleicht keine andere Kunstszene ist der Tanz zur internationalen und interkulturellen Probebühne einer neuen und offenen Gesellschaft geworden. Eine Entwicklung und ein Potenzial, das zur DNA des modernen oder zeitgenössischen Tanzes seit dem Jahrhundertbeginn gehörte, das sich in den 1980er-Jahren dann rasant aktualisierte und verdichtete. So widmete sich beispielsweise das Doppelheft von «ballett international/tanz aktuell» im August 1995 auf 50 Seiten einer interkulturellen, transnationalen Kunstszene am Beispiel des Tanzes. Die Bühne und der menschliche Körper wurden zum politischen Raum. Dafür standen beispielhaft die Choreografien von Lin Hwai-min, Maurice Béjart, Chandralekha, Bill T. Jones, Eleo Pomare, Ea Sola oder Koffi Kôkô, die wir in diesem Heft porträtierten. Sie korrespondierten mit den international ausgerichteten Festivals und den künstlerischen Ansätzen von DV8 oder Meg Stuart.

Impulsgeber und Schrittmacher dieser Bewegung waren immer die Tänzer*innen und Choreograf*innen selbst. Wir bewegten uns in einem gemeinsamen Raum der Transformation ästhetischer Konventionen, in einem offenen Raum der Forschung, des Austauschs und der sinnlichen Inspiration: ein einzigartiges internationales Kraftfeld, mit dem wir uns als Zeitschrift entwickelten.


Tanz Mai 2024
Rubrik: 30 Jahre tanz, Seite 50
von Johannes Odenthal

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