Saar Magal
Ballett-Probenraum 1 der Berliner Staatsoper, später Vormittag. Im Eingangsregal drängeln sich Haribo-Tüten, Handtücher, Sneakers und irgendwelche Papiere. Auf dem Boden haben Bierflaschen Stellung bezogen – und zwar mehrere Hundertschaften, die sich auf exakt markierten Positionen nachbarschaftlich aneinanderdrücken und nur einen schmalen Mittelgang freilassen. Drei Tänzerinnen, zwei Tänzer, dazu Sängerinnen, Sänger und Musiker erproben ein prekäres Arrangement. Sie balancieren auf jeweils vier Flaschenhälsen, gestikulieren, singen, musizieren.
Natürlich macht der eine oder andere zwischendrin -einen unfreiwilligen Abgang und muss sich mithilfe eines Stocks wieder hochstelzen. Aber dennoch geht von dieser Szene etwas Berückendes aus – was nicht zuletzt am «Lamento della Ninfa» liegt. Die Klage der verlassenen Nymphe, eingebettet in drei Männerstimmen, stammt aus Claudio Monteverdis achtem Madrigalbuch. Die 1638 veröffentlichte Komposition sprengte seinerzeit die Konvention, nun hat sie Saar Magal zu einer unkonventionellen szenischen Lösung inspiriert. Die Choreografin dirigiert aus dem Hintergrund, umrundet dabei langsam den Flaschenwald, spricht leise und eindringlich, ganz ohne Druck mit den Performern. Eine Frau, die weiß was sie will, und das Gegenüber doch stets im Blick hat. Wer sie zum Interview trifft, erlebt kein Frage-Antwort-Spiel, sondern ein Gespräch über Musik, Kinder und die Welt, wie sie ist – und vielleicht sein könnte.
Saar Magal, ob «Hacking Wagner» oder «Jephta‘s Daughter» – Sie stochern ganz gern in den Wunden von Geschichte und Gegenwart herum. Wie passt «A Monteverdi Project» in diese Reihe?
Um ehrlich zu sein, handelt es sich um ein Auftragswerk. Matthias Schulz, der neue Intendant der Staatsoper, hat mich gefragt, ob ich das im Apollosaal inszenieren könnte – und ich habe unterschrieben. Da wusste ich noch nicht, dass ich schwanger bin …
Oha, und wie schaffen Sie das jetzt mit den Proben?
Mein Sohn ist acht Wochen alt, mein Mann ist Universitätsprofessor in den USA und hat sich ein Sabbatical genommen – so sind wir eben alle drei in Berlin angelandet. Aber zurück zu Monteverdi: Ich liebe Barockmusik, doch mit Monteverdis Werken hat mich bislang nicht so viel verbunden, das musste ich mir erst erschließen. Und zugleich war mir schnell klar, dass das Projekt wunderbar als Mittelstück in die Trilogie «Futurity» passt, an der ich gerade arbeite.
Der Titel klingt nach Sci-Fi – zu Recht?
Es geht in allen drei Teilen um das, was das Anthropozän – also ein Zeitalter, das ökologisch, klimatisch, geologisch vor allem durch menschliche Existenz und Handlungsweisen geprägt wird – eigentlich bedeutet. Den ersten Abschnitt, «Extinction/I‘m still here», habe ich im März in Zürich he-rausgebracht. Wir haben das aufgehängt an einer Auseinandersetzung mit der Frage, wie antike Mythen, wie Katastrophenszenarien und Auslöschungsfantasien unsere Zukunftsideen und unseren Umgang mit der Erde bestimmen. Und ob sich daran etwas drehen lässt.
Mit welchem Ergebnis?
Alle haben den Eindruck, dass Kriege und Gewalt ständig zunehmen, aber die Wissenschaft sagt uns: Der Eindruck trügt, das Bild ist komplexer, global gesehen nimmt beides eher ab. Ich habe versucht, diese abstrakten Erkenntnisse in Tanz, in Theater zu übersetzen. Denn das ist etwas, was mich zunehmend interessiert: Wie lassen sich Ideen, Konzepte über den Körper transportieren?
Wie gehen Sie da vor?
Ich mache einen inhaltlichen Entwurf und lege bestimmte Ankerpunkte fest, auch was die Bewegung betrifft. Bei «Futurity» hilft außerdem das Setting – die Bierflaschen waren schon in Zürich mit von der Partie. Sie schaffen eine zerbrechliche Situation, können sich aber auch in ein chaotisches Schlachtfeld verwandeln.
Wie kommt man von diesem Schlachtfeld zu Monteverdi?
Indem wir um das kreisen, was auch Monteverdi zeitlebens beschäftigt hat und was in der DNA seiner Musik verankert ist: Affekte, Gefühle, Liebe. Wie gehen wir mit Emotionen um, wie mit Erotik? Das wissenschaftliche Unterfutter kommt von Marshall McLuhan und seinen Nachfolgern, die uns klarmachen, dass wir in einer narkotischen Kultur leben, in einem Zustand allgemeiner Taubheit. Einen anderen wichtigen Strang steuert die Soziologin Eva Illouz bei, die 2015 in ihrem Buch «Warum Liebe weh tut» die Veränderung des Schönheitsbegriffs beschrieben hat. Einst war er an Unschuld und Unberührtheit gekoppelt, heute ist Sexiness der Schlüssel. Mit Monteverdi greife ich ein Stück weit nach dieser Unschuld, dieser Klarheit.
Ist das nicht eine Verklärung?
Nein, ich glaube nicht. Monteverdis Musik ist, wiewohl frühes Barock, sehr offen, fast naiv. Wenn sie traurig ist, ist sie traurig, wenn sie fröhlich ist, ist sie fröhlich. Es gibt da keine Manipulation wie zum Beispiel ganz eklatant bei Richard Wagner, dem du einfach nicht entkommen kannst. Aber Monteverdi bleibt klar, pur, rein – und ist darin, denke ich, Ausdruck seiner Zeit.
Aber im 17. Jahrhundert ging es doch keineswegs friedlich oder harmonisch zu. Die Welt erbebte geradezu unter Kriegen, das ganze Leben war ein Kampf.
Vielleicht ist genau deshalb die Musik des Barock so kristallin. Ich glaube, dass den Menschen damals jeder Zynismus abging, jede Art von Verstellung und radikaler Selbstbezüglichkeit. Also gerade das, was uns in Fleisch und Blut übergegangen ist. Alles war, was es war. Und das eben fasziniert mich an Monteverdi. Diese Haltung spiegelt sich in seiner Musik, und ich versuche, sie mit dem Hier und Heute in einen Dialog zu bringen.
Das war auf der Probe deutlich zu sehen, denn die Tänzer arbeiten eigentlich fast kontrapunktisch zu dem, was aus der Musik spricht, und sind dennoch im Austausch mit ihr.
Sie setzen das, was sie kennen – die Kultur der Selfies, des Augenblicks, die Praxis von Snapchat und anderen Apps, die Schlaglichter festhalten – gegen die Kontinuität, den Strom, der durch Monteverdis Kompositionen fließt. Dazu gehört eben auch, dass sie auf wackligen Flaschen stehen und nie wirklich Halt finden, sich also in keinem Kontinuum bewegen.
Sie arbeiten insgesamt mit 16 Akteuren, die Tänzer kommen alle aus Berlin.
Ich habe sie über eine Audition gefunden, wahrscheinlich gibt es keine zweite Stadt, in der sich so viele Künstler und Künstlerinnen tummeln – und so viele ohne Arbeit. Trotzdem ist Berlin für mich der freieste Ort der Welt. Hier lässt sich immer noch etwas entdecken, erobern.
Sie sind in Tel Aviv geboren, haben dort und am Laban Centre in London Tanz studiert, halten sich aber seit vielen Jahren regelmäßig in Deutschland auf.
Und so gut wie kaum mehr in Israel, obwohl ich das Land liebe, Tel Aviv liebe, meine Familie dort lebt.
Wie erleben Sie die politische Situation in Deutschland?
Natürlich ist es schrecklich, was mit der AfD vor sich geht, aber es gibt immer noch eine starke Linke, gerade in Berlin. Das ist in Israel ganz anders. Die Lage dort bricht einem das Herz, die Demokratie ist tatsächlich in Gefahr. Künstler landen auf einer schwarzen Liste, weil sie den regierungsamtlichen Rechtskurs nicht unterstützen. Also üben nicht wenige Selbstzensur, um überleben zu können und nicht mit dem Staatsapparat aneinanderzugeraten. So etwas habe ich in Deutschland noch nie beobachtet. Trotzdem gebe ich Israel nicht auf, bleibt die Hoffnung, dass es irgendwann besser wird.
Was spricht dafür?
Aus meiner Sicht: dass ich ganz grundsätzlich eine Optimistin bin.
«A Monteverdi Project», Uraufführung am 18. November im Apollosaal der Berliner Staatsoper unter den Linden, wieder am 20., 23., 27., 30. November; www.staatsoper-berlin.de
Tanz November 2018
Rubrik: Menschen, Seite 24
von Dorion Weickmann
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