Risiko

Eine Performance scheitert an politischem, weltanschaulichem Irrsinn. Was von ihr bleibt, ist reiner Protest. Und absolute Vorsicht

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Es ist ein Hilfeschrei, aber einer, der am liebsten stumm bliebe. Und die Geschichte beginnt so: Ein*e Choreograf*in und ein*e Performer*in erarbeiten zusammen ein Duo, in dem sie zum Ausdruck bringen wollen, dass auch in notorisch verfeindeten Ländern die Herzen der Menschen gleich schlagen, dass sie sich an der gleichen Art von Schnulzen erwärmen und den gleichen Reden von politischen und religiösen Aufwieglern ausgesetzt sind. Sie leben in Europa und sind sich dort begegnet. Nennen wir sie aus Sicherheitsgründen einfach X und Y. X stammt aus Israel, Y aus Iran.

Auf der Bühne wollten sie das Publikum zu gefilmten Autofahrten durch ihre jeweilige Heimat einladen, die Texte der Songs und Hasspredigten übersetzen und sich einen Ringkampf liefern. Dafür hatten sie extra Unterricht genommen, bei Kampfsport-Profis. Das führt zu Körperkontakt und praktisch zu Umarmungen. Man fühlt sich voneinander angezogen, wirft sich aber schwitzend die Litanei der ewigen Vorwürfe an den Kopf – künftige Bedrohung durch Atomwaffen, das Unrecht der Vertreibung der Palästinenser*innen … Als wolle man sich deren giftige Wirkung aus dem Leib schreien und sie in einem kathartischen Akt überwinden. Doch im ...

NATURAL DRAMA
SOROUR DARABI PERFORMT IM WESTEN, WAS IN IRAN NICHT MÖGLICH IST

Ein Fall von «er» oder ein Fall von «sie»? Weder noch. Sorour Darabi ist genderneutral bzw. weiblich und männlich zugleich. Also auch nicht «es». Denn es ist nicht so, dass Darabi an Kleidung und Aussehen die Gendermerkmale verschwinden ließe. Im Gegenteil, Sorour trägt Bart und zeigt Ansätze von weiblicher Oberweite, hat sanft männliche Gesichtszüge und zierlich-elegante Beine. Allein die Stimmlage ist undefinierbar, irgendwo zwischen Sopran und Bariton. 1990 im südiranischen Shiraz – der ursprünglichen Hauptstadt Persiens – geboren, war Darabi Teil eines künstlerischen Netzwerks, das trotz religiöspolitischer Widerstände in Teheran zeitgenössische Tanzaufführungen im Rahmen des Invisible Centre of Contemporary Dance (ICCD) und dessen Festival «Untimely» organisierte. Der Gründer des ICCD, Mohammad Abbasi, wurde in Frankreich ausgebildet. Iranische Vertreter*innen der aufführenden Künste stehen dort hoch im Kurs. Von deren Erfolg inspiriert, ergriff Darabi die Chance, nach autodidaktischen Anfängen in der Heimat gen Montpellier zu ziehen und dort die Ausbildung «e.x.e.r.c.e» am Centre chorégraphique zu absolvieren, Frankreichs kreativster Schmiede für choreografische Erneuerung. Und damit der richtige Ort, um geschlechtsbezogene kulturelle Konstruktionen zu durchleuchten, die im Iran nicht öffentlich debattiert werden können. ...

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Tanz März 2023
Rubrik: Iran, Seite 54
von Thomas Hahn

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