Krimifieber
Eine Leiche, Ritter in voller Rüstung und mitten im Wald eine dahinschmachtende Dame in Weiß: Agatha Christie meets Mittelalter-Romantik? Mit der Zugkraft eines packenden Krimis jedenfalls schnurrte die Uraufführung von «Assembly Hall» in 90 pausenlosen Minuten auf den Brettern des Vancouver Playhouse ab. Visuell und erzählerisch reizvoll, mit lebensprallen Figuren und überaus bühnenwirksamen Momenten voller urkomischer Melodramatik haben Crystal Pite und Jonathon Young wieder einen Knüller produziert.
Nach dem herzzerreißenden Stück «Betroffenheit» und dem witzigen «Revisor» punktet das kanadische Duo – sie Choreografin, er Autor – auch mit dem dritten Abendfüller für Pites Kompanie Kidd Pivot. Doch damit nicht genug: Auf der Website des Veranstalters DanceHouse, wo Pite und Young erläutern, was sie mit ihrer neuen Kreation im Schilde führen, nennt das Erfolgstandem neben weiteren Inspirationsquellen das berühmte Geschäftsordnungs-Handbuch des US-Amerikaners Henry Martyn Robert, «Robert‘s Rules of Order» und zitiert aus Goethes «Zauberlehrling» den berühmten Vers: «Die ich rief, die Geister/Werd ich nun nicht los».
Zurück zum Krimi: Die Leiche – oder zumindest was man zeitweilig dafür hält – wird in einem glanzlosen Saal aufgefunden, in dem genauso gut Kuchenbasare, Jugendgruppentreffen oder örtliche Mutter-Kind-Gymnastik stattfinden könnten. Pites langjähriger Mitarbeiter und Lebensgefährte Jay Gower Taylor hat den leicht heruntergekommenen Gemeinschaftsraum mit viel Liebe zum Detail gestaltet und mit einem Basketballkorb vor der kleinen hausbackenen Saalbühne, stapelbarer 08/15-Reihenbestuhlung und verblichener Wandfarbe ausgestattet. Eben soll die jährliche Generalversammlung eines Vereins mittelalterlicher Kleindarsteller eröffnet werden, als man die Leiche auf dem Boden entdeckt.
Comicfiguren aus Fleisch und Blut
Natürlich ist im Universum von Pite und Young nichts, wie es scheint. Weder Glenda (Renée Sigouin), die als Erste zum Meeting erscheint, noch das Publikum weiß Genaueres über den Zustand des Leichnams. Was es mit ihm auf sich hat, wird sich erst am Schluss des Stückes herausstellen. Mit Sicherheit aber lässt sich sagen, dass Pites einfühlsame Choreografie, engmaschig an Youngs akustisch eingespieltes Skript geknüpft, von den acht Tänzer*innen virtuos und stringent performt wird. Mit schier unheimlicher Präzision bewegen sie die Lippen zu den Voiceovers ihrer jeweiligen Figuren, und das, ohne auch nur ansatzweise die tänzerischen Anforderungen zu vernachlässigen. Die bestehen nicht zuletzt darin, die ruhelos-wechselhaften, müde-ermatteten, herrischen oder zahmen, unsicheren oder leidenschaftlich-erregten Ausdrucksnuancen zu verkörpern, die die Gemütszustände ihrer jeweiligen Charaktere veranschaulichen. Dazu bedienen sie sich überzeichneter, bisweilen comicartiger Plakativität und bleiben doch stets als menschliche Wesen aus Fleisch und Blut erkennbar. So unterhaltsam diese stilistisch einzigartigen Bewegungssequenzen auch sind: Man freut sich doch immer über die Solos, Duette und Ensembleszenen, in denen sich der Tanz losreißen und von der vokalen Begleitung befreien darf. Nichtsdestotrotz: Youngs cleveres Skript mäandert mühelos zwischen bürokratischem Hauptversammlungs-Ambiente, spannendem mittelalterlichen Cosplay und beunruhigend echt wirkenden Rittergefechten. Die acht Schauspieler*innen, die den Figuren ihre Stimmen leihen, tun dies mit überzeugender Intonation und nuanciertem Tonfall. Rhythmisch, gemessen und bisweilen bewusst repetitiv fließen die Gesprächssequenzen dahin, fast wie ein eigenständiger Tanz. Am Ende werden die diversen Themen jedoch keineswegs aufgelöst, sondern liefern dem Publikum allerlei Gesprächsstoff für den Heimweg.
Crystal Pite hat mittlerweile mehr als 50 Arbeiten für internationale Kompanien kreiert, darunter das Londoner Royal Ballet, das Ballett Zürich, das Ballett der Pariser Oper und das National Ballet of Canada in Toronto. An Kanadas Westküste, dem home territory der Choreografin, kommt man dagegen eher selten in den Genuss einer ihrer Premieren. Immerhin setzt das Ballet BC in Vancouver gelegentlich eines ihrer internationalen Auftragswerke an – zuletzt «The Statement», das Pite für das Nederlands Dans Theater 1 schuf. In Europa fasste Crystal Pite erstmals 1996 Fuß, als sie ihren Job als Tänzerin beim Ballet BC kündigte und bei William Forsythe in Frankfurt anheuerte. Dort widmete sie sich dann auch zunehmend ihrer choreografischen Berufung. Ihre 2002 in Vancouver gegründete Kompanie Kidd Pivot nannte sie in den Jahren 2010 bis 2012 zwischenzeitlich Kidd Pivot Frankfurt RM, um der großzügigen Unterstützung Rechnung zu tragen, die sie während einer Residenz am Frankfurter Künstlerhaus Mousonturm erfahren hatte, wo ihre Stücke «The You Show» und «The Tempest Replica» zur Premiere gelangt waren.
Säuselnde Winde und Krähengeschrei
Pites Interesse am Geschichten-Erzählen war schon in vielen ihrer frühen Arbeiten deutlich erkennbar und kulminierte zunächst in der stark narrativen Textur von «The Tempest Replica», einer Kreation, mit der sie sich immerhin an ein komplettes Shakespeare-Drama heranwagte. Doch dann, nur wenige Jahre später, kam «Betroffenheit». Diese Zusammenarbeit mit dem Theaterkünstler, Schauspieler und Mitgründer des in Vancouver ansässigen Electric Company Theatre erwies sich augenblicklich als Glücksfall. Pite hatte in Young einen künstlerischen Mitstreiter gefunden, mit dem sie die Vermählung von Wort und Tanz bis ins Extrem treiben und sowohl die Grenzen als auch die Reichweite von Theater und Tanz ausloten sollte. Und nun haben wir es mit «Assembly Hall» ein weiteres Mal mit einer Story zu tun, einem spannenden, vielschichtigen Narrativ, das durch den Abend trägt und mittels Figurendopplung durch Tanz und Stimme abermals überlebensgroße Charaktere präsentiert. Wie in allen Arbeiten von Crystal Pite sind die Tänzer*innen offenkundig von den spezifischen Bewegungsvorstellungen der Tanzmacherin inspiriert und dadurch in der Lage, neuen Facetten ihrer Künstlerpersönlichkeiten Ausdruck zu verleihen. Zu den bekannten Gesichtern der Produktion zählen Doug Letheren, der im «Revisor» den Director of the Complex verkörpert hatte und nun in der Rolle des Versammlungsleiters Shaun einen bebrillten Durchschnittstypen in unauffälliger Straßenkleidung gibt. Ella Rothschild, im «Revisor» als strenger Minister Desouza besetzt, ist hier als Mae mit einer sanfteren und leichtfüßigeren Rolle betraut. Gregory Lau, der im «Revisor» die Titelpartie von Tiffany Tregarthen übernommen hatte, spielt den unaufdringlichen Dave, der sich nie entscheiden kann, immer dabei ist und doch nie auffällt, jener Typus, der hauptsächlich dafür Sorge trägt, dass die zur Beschlussfassung notwendige Stimmenanzahl zustandekommt. Aber gerade er macht im Stück eine der wichtigsten Wandlungen durch: Als die 93. Ausgabe des mittelalterlichen «Quest Fest» beginnt, gerät ausgerechnet die von ihm verkörperte Rittergestalt in ein Abenteuer hinein, das womöglich gar kein fiktives Spiel ist, sondern sich als bitterer Ernst entpuppt. Sein Duett mit Renée Sigouin zu Tschaikowskys Klavierkonzert Nr. 1, das an früherer Stelle bereits satt erklungen war und nun nochmals als schwaches Echo widerhallt, ist reich an den Pite-typischen komplexen Verwicklungen, bei denen Stützende(r) und Gestützte(r) in perfekter Balance miteinander harmonieren. Sigouin übrigens stürzt sich bemerkenswert rückhaltlos in ihre Rollen: zunächst als rechthaberische Glenda und später als schmachtende Lady in White. Im Grunde aber sind alle Performer*innen auf ihre Weise herausragend, so auch Livona Ellis und Brandon Alley, die man in Vancouver noch von ihren Engagements beim Ballet BC kennt, Rena Narumi, die 2010 bei Kidd Pivot in die Lehre ging und später als Interrogator Klak im «Revisor» zu sehen war, und nicht zu vergessen Rakeem Hardys Solo zur Verlesung des Sitzungsprotokolls des vorangehenden Meetings, das ein wahres Wunder an Rasanz und Präzision ist (dem an keiner Stelle digital «nachgeholfen» wird).
Auch weitere treue Mitstreiter*innen, die Pites Produktionen schon in der Vergangenheit kreativ begleitet haben, sind wieder mit von der Partie: Von Jay Gower Taylor stammt das gewollt farblose Set, von Tom Visser das veränderliche Lichtdesign, das die permanent sich wandelnden Wirklichkeiten von «Assembly Hall» atmosphärisch entstehen lässt. Nancy Bryant hat die ausgeklügelten Kostüme entworfen, die mehr als einmal blitzartig gewechselt werden müssen, wenn Alltagsröcke und -hosen der mittelalterlichen Garderobe mit ihren schrulligen Accessoires weichen müssen. Ebenso dynamisch wandelt sich die Klanglandschaft aus orchestralen Sounds, säuselnden Winden und spöttischem Krähengeschrei, die Owen Belton, Alessandro Juliani und Meg Roe – die beiden Letzteren agieren zudem als Sprecher*innen – arrangiert und komponiert haben. Das alles ergibt einen fantastischen Abend, der sich auch auf internationaler Tour bewähren wird.
Aus dem Englischen von Marc Staudacher
Wieder in Zürich, Theater 11, «Steps»-Festival, 3. Mai, www.steps.ch; St. Pölten, Festspielhaus, 9. Mai, www.festspielhaus.at; Edinburgh, «Edinburgh International Festival», 22.–24. August; www.kiddpivot.org

Tanz Mai 2024
Rubrik: Produktionen, Seite 4
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