Frauen vor
Einer der am häufigsten zitierten Aussprüche von George Balanchine lautet: «Ballet is Woman». Noch 2016 schien der seinerzeit amtierende Chef des von Balanchine gegründeten New York City Ballet -(NYCB), Peter Martins (tanz 2/18), diese Auffassung in einem Interview mit der «New York Times» zu bestätigen: «Ich habe mich mein ganzes Leben lang in einer Frauenwelt bewegt; das Letzte, was wir hier sind, ist sexistisch.» Gleichwohl waren lediglich drei von insgesamt 77 Balletten, die das NYCB in der Saison 2016/17 auf die Bühne brachte, von Frauen choreografiert.
Noch frappierender: Mit dieser Quote liegt das NYCB im betrachteten Zeitraum nordamerikaweit sogar noch an der Spitze. Das San Francisco Ballet, das Boston Ballet, das Miami City Ballet sowie das National Ballet of Canada brachten es – zusammengenommen, wohlgemerkt – auf sage und schreibe: null Choreografinnen.
Gärtner und Musen
Kaum anders stellt sich die Situation in Europa dar: In Deutschland beispielsweise fand sich im selben Zeitraum beim Berliner Staatsballett und beim Dresdner Semperoper Ballett – beides staatlich finanzierte Kompanien – ebenfalls keine Produktion von weiblicher Hand auf dem Programm. Bei Het Nationale Ballet in Amsterdam stand eine einzige von einer Frau gemachte Inszenierung auf einsamem Pos-ten gegenüber 17 Kreationen von Männern. Ähnliche Zahlen auch in Paris (1 : 25 das Verhältnis) sowie beim Royal Ballet in London, wo Crystal Pite mit «Flight Pattern» (siehe S. 26) überhaupt die erste Choreografin war, die es in diesem Jahrhundert auf die Hauptbühne des Royal Opera House schaffte. Wenn der Tanz laut Peter Martins also eine «Frauenwelt» sei, dann drängt sich die Frage auf: Wieso ist die Liste international gefragter Tanzschaffender so unverhältnismäßig männlich dominiert?
Ein brauchbarer Hinweis mag sich bereits in Balanchines eingangs zitierter Sentenz verbergen. «Das Ballett ist etwas rein Weibliches», behauptete Mr. B., «es ist eine Frau, ein Garten voller schöner Blumen, und der Gärtner ist der Mann.» Diese Auffassung von männlicher -Autorität lässt sich innerhalb der Tanzgeschichte auf eine Jahrhunderte alte Kultur höchst geschlechtsspezifischer Rollenzuschreibungen zurückführen. Ausbildungsmethoden, die Darstellung der Frau auf der Ballettbühne sowie der Habitus männlicher Choreografen, ihre Inspiration von einer weiblichen Muse zu beziehen, haben allesamt zum Bild des Choreografen als maskuliner, patriarchaler Figur beigetragen und bestimmen das Berufsbild. Warum aber besteht dieses Image bis ins zweite Jahrzehnt dieses vermeintlich so progressiven 21. Jahrhunderts fort?
Mit zweierlei Maß
Im Jahr 2016 führte ich eine einjährige Forschungsstudie an der City University London durch, um das Ausmaß und die Gründe des Geschlechterungleichgewichts innerhalb der choreografierenden Zunft zu beleuchten. Besonderes Augenmerk legte ich dabei auf die Frage, warum eine solche Divergenz im klassischen Ballett noch ausgeprägter zutage tritt als auf dem Feld des zeitgenössischen Tanzes. Allein die nackten Zahlen zeigten: In praktisch jeder untersuchten Region sind Choreografinnen stark unterrepräsentiert.
Zu den zahlreichen Ursachen dieses Ungleichgewichts gehört die Tatsache, dass bereits in der frühen Balletterziehung mit zweierlei Maß gemessen wird. Jungs gelten als «Luxusgut» und werden zu forscher Offenheit und unverblümtem Individualismus angehalten, um sie auf diese Weise zum Verbleiben im gewählten Metier zu bewegen. Dagegen werden Mädchen, die Dinge hinterfragen, ganz besonders in jungen Jahren häufig als Störenfriede betrachtet. Hinzu kommt, dass junge Männer, die von den Aufgaben im Corps de ballet weitgehend befreit sind, mehr Zeit und Gelegenheit haben, mit dem eigenen Choreografieren zu experimentieren. Die befragten Frauen formulierten den Eindruck, dass sie während ihrer Tanzausbildung generell so gut wie gar nicht ermuntert wurden, eine choreografische Laufbahn einzuschlagen. Eine Interview-Partnerin drückte das so aus: «Wenn du mit der Erfahrung aufwächst, dass 99 Prozent aller Choreografen, die dir begegnen, Männer sind ... dann lernst du irgendwann einfach, das Wort ‹Choreograf› als eine männliche Berufsbezeichnung anzusehen.»
Für Frauen ist der Rückzug von der Tanzkarriere typischerweise von der biologischen Uhr bestimmt. Zudem haben viele Frauen, die als Vollzeit-Choreografin Karriere machen, zumindest einen Teil ihrer aktiven Tänzerinnenlaufbahn für diesen Karriereweg geopfert. Dass sich Frauen von den männlich dominierten Netzwerken – schwule Zirkel inklusive – ausgeschlossen fühlen, wird von Choreografinnen als weiterer Grund für mangelnde Entwicklungs- und Aufführungschancen angeführt. Das Thema wird im öffentlichen Diskurs gerne gemieden, vom britischen Tanzkritiker Luke Jennings indessen freimütig in seinem Buch «Female Choreographers: Further Thoughts» angesprochen. Dort heißt es: «Man könnte solche Klagen als Missgunst oder Paranoia abtun, würden sie nicht in solch vollkommener Einmütigkeit geäußert.» Nicht zuletzt mag auch eine unterschwellige Voreingenommenheit seitens der programmierenden Entscheidungsträger dazu beitragen, dass abendfüllende Ballette so selten den Händen von Choreografinnen anvertraut werden – das Vorurteil nämlich, Frauen würden mit großen Produktionsteams schlechter zurande kommen als Männer.
Lichtblicke
Vereinzelt zeichnen sich allerdings auch Lichtblicke ab. In Großbritannien etwa hat die nicht nur in Tänzerkreisen, sondern im gesamten Kunst- und Mediensektor geführte öffentliche Debatte über Chancengleichheit dazu beigetragen, erste Maßnahmen gegen den eklatanten Mangel an Choreografinnen in die Wege zu leiten. Als leuchtendes Beispiel dürfen die skandinavischen Länder gelten: Die staatlichen Ballettkompanien Schwedens, Norwegens und Finnlands zusammengenommen optierten bei ihren Produktionen der Spielzeit 2016/17 für 14 Arbeiten von Choreografinnen (gegenüber 18 Kreationen von männlichen Kollegen). Das Finnische Nationalballett erreichte diesbezüglich sogar exakte Parität. Interessanterweise verzeichnen die genannten drei Länder – im Vergleich zu den europäischen Nachbarn sowie Nordamerika – auch im Unternehmensbereich einen überdurchschnittlich hohen Prozentsatz an weiblich besetzten Führungspositionen.
Doch Skandinavien bildet bis auf Weiteres die Ausnahme. Um auch im Rest der Ballettwelt zu einer entsprechenden Ausgewogenheit zu gelangen, braucht es praktikable und effiziente Methoden, mit deren Hilfe Ballettkompanien zukünftigen Generationen weiblicher Tanzschaffender den Weg bahnen können. In Akademien und Ausbildungsstätten sollten Themen wie etwa die Entstehung von Geschlechterstereotypen behandelt werden – um sodann den Praxistest zu machen, ob Unterrichtende beim Training von Jungen und Mädchen womöglich unterschiedliche Maßstäbe anlegen. Ferner längst überfällig: eine Analyse der Karriereverläufe von Choreografinnen, ebenso eine Untersuchung, inwiefern Entscheidungsträgerinnen und Künstlerische Leiterinnen Einfluss auf die Laufbahn von Choreografinnen haben. Auch eine Langzeitstudie der Repertoires führender Ballett- und Tanzkompanien könnte das tatsächliche Ausmaß des Missverhältnisses zwischen männlichen und weiblichen Choreografen veranschaulichen und eventuelle Fortschritte bei der Einebnung des Gefälles dokumentieren.
Am wichtigsten jedoch wird es sein, aus den gewonnenen Erkenntnissen einen Kurswechsel abzuleiten und Chancengleichheit in die Tat umzusetzen. Warum? Weil auch Ballettkompanien ein Spiegel der Gesellschaft sind, in der sie auftreten. Und weil sich ihr individuelles Profil, ihre Essenz, durch ihr Repertoire ausdrückt. Damit keine Missverständnisse entstehen: Talent ist natürlich ein subjektiver Begriff und das Choreografieren eine Kunst, die entlang intrinsischer Wertmaßstäbe zu beurteilen ist. Dennoch fällt auf, dass Choreografen ihre beträchtlichen Ausdrucksmöglichkeiten bislang vornehmlich auf vorrangig männliche Deutungsschemata angewandt haben. Diese haben die Geschichte des Tanzes richtungsweisend geprägt, und wie es derzeit aussieht, scheinen sie auch dessen Zukunft zu bestimmen. Wenn aber das Ballett als Kunstform auch für künftige Generationen eine relevante Größe darstellen will, muss es sowohl männliche als auch weibliche Stimmen zu Wort kommen lassen. Der Weg zur Gleichbehandlung von Choreografinnen jenseits von Diskursen und Initiativen ist noch weit. Doch er muss fortgesetzt werden – und zwar jetzt, wo allenthalben Debatten über das Verhältnis der Geschlechter ins Rollen kommen und sich erste Erfolge abzuzeichnen beginnen.
PS: Anfang März haben Les Grands Ballets Canadiens in Montréal einen Ballett-abend mit dem Titel «Femmes» angekündigt – ausnahmslos von Männern choreografiert. Daraufhin schaltete die Choreografin Kathleen Rea eine Online-Petition, die Ballettchef Ivan Cavallari aufrief, «eine Choreografin für das Programm» zu verpflichten. Binnen drei Tagen kamen fast 3000 Unterschriften zusammen. Nachdem einer der drei Choreografen von sich aus einen Rückzieher gemacht hatte, zeigte sich Cavallari so einsichtig wie zerknirscht: «Ich habe einen Fehler gemacht, okay, ich entschuldige mich.» Wenn das nicht ganz neue Töne sind …
Aus dem Englischen von Marc Staudacher
Jessica Teague war als Profitänzerin beim Pacific Northwest Ballet, bei Het Nationale Ballet, bei der GöteborgsOperans Danskompani und beim Ballet Vlaanderen engagiert. Sie arbeitet als Tanzjournalistin und ist Autorin der Studie «Dancing around the issue: a study on the gender imbalance among professional choreographers working in the fields of classical and contemporary dance».
Tanz April 2018
Rubrik: Ideen, Seite 56
von Jessica Teague
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