ars nova
«Das Tanzkunstwerk hat seine Zeit, nicht anders als der Tänzer selber der Zeitspanne verhaftet ist, die es ihm gestattet, sich seines Körpers als Instrument souverän zu bedienen. Das ist das tänzerische Schicksal. Wir alle haben es erfahren und anerkennen müssen. Und doch geschieht nichts umsonst. Alles Gelebte und aus dem Erlebten Gestaltete erhält und erfüllt seinen Sinn. Es lebt und wirkt weiter, unter der Haut, unter der Oberfläche gewissermaßen, andere Menschen anregend und befruchtend.
Hat es sich um einen echten schöpferischen Einfall gehandelt, so steigt das scheinbar Verlorene wieder aus der Versenkung herauf, um sich, vom Ballast seiner Schlacken befreit, zur richtigen Stunde am richtigen Platz zu behaupten.»
Dieses Zitat Mary Wigmans widerspricht ein wenig ihrem eigenen Credo, Tanz sei «die flüchtigste aller Künste». Denn als die Pionierin des Absoluten, des Freien, des Neuen künstlerischen Tanzes am 18. September 1973 mit 87 Jahren starb, schien sie selbst der Flüchtigkeit anheimgefallen. Eine neue Balletteuphorie war aufgeflammt, das Tanztheater geboren, das Expressionistische verschwunden. Wie umwälzend die Dynamik der Tanzentwicklung des 20. Jahrhunderts war, wie schillernd dabei ihre Persönlichkeit als revolutionäre Tänzerin, Choreografin, Regisseurin, Pädagogin, Essayistin lässt sich in Biografien nachlesen. Was die Praxis der Ballastbefreiung betrifft, waren die Nachkommen am Zug.
Eine Gegenwartsfanatikerin
Was der Körper erinnert, hat ein Verfallsdatum. Die Zeitzeugen drohen zu verschwinden, damit auch das, was in ihrem Zellgedächtnis schlummert. Fast alle sind in den Achtzigern. Choreografen, die sich auf Wigmans Kunst beziehen, aus der Quelle des Atems schöpfen, raumarchitektonisch denken, gibt es nur wenige. Das Projekt «Tanzfonds Erbe» hat sie ans Licht gelockt und auch Wigmans letzten großen Wurf «Le Sacre du printemps» fürs Ballett der Städtischen Oper Berlin von 1957 in zwei Fassungen 2013/16 reanimiert. Auch ihr «Totentanz» lebte auf. Niemand ließ sich abschrecken von Wigmans Unkenruf, keine Rekonstruktion habe noch je etwas getaugt. Susanne Linke, eine letzte Schülerin, bekennt, dass sie der stärkste Mensch war, der ihr je begegnet sei. Das «feinstoffliche Etwas», «die Sinnlichkeit der Körpersprache in Raum und Zeit» beflügelten alle ihre eigenen Schöpfungen. Mit raumgreifendem Gleiten und chorischer Dynamik zeigt Sasha Waltz in «Beethoven 7», dass die Wigman-Schülerin Waltraud Kornhaas einst ihre Lehrerin war.
Mary Wigman gehörte zu den ersten Mitgliedern der Akademie der Künste Berlin nach dem Zweiten Weltkrieg, in deren Archiv nun die materiellen Früchte ihrer immateriellen Kunst sorgsam aufgehoben werden: Tagebücher, Briefe, choreografische Skizzen, Fotos – in drei großen Ausstellungen wurde auch öffentlich gemacht, was den New German Dance lebendig machte. Flüchtig blieb das bewusste Erleben, der Atem, das Dreigestirn Zeit–Kraft–Raum, denn eine Tanztechnik hat Wigman nicht hinterlassen; jenes Fundament, das ihre US-Kolleg*innen Humphrey, Graham, Hawkins, Cunningham, Horton unsterblich machte. Sie wollte keine Epigonen schaffen, sondern denkende, kreative Künstler. Als «Gegenwartsfanatikerin» sagte sie das Sterben ihrer Kunst voraus und hielt sie für eine abgeschlossene Phase. Dabei war ihre Lehrweise des Variierens eines Themas wegweisend. Die Verfeinerung des Handwerks lag ihr am Herzen. Nur in den Lektionen des Lernforschers Moshé Feldenkrais ist dieses Prinzip einer «analytischen Funktionsdurchdringung» wiederzufinden.
Das Tanzstudio Mary Wigman in der Rheinbabenallee in Dahlem war nach dem Bau der Berliner Mauer 1961 durch die politisch-geografische Abschnürung in finanzielle Schwierigkeiten geraten. Der Zustrom Interessierter aus Ost und West versiegte. Auch der Pendelverkehr zwischen den Kontinenten, den Wigman als reisender Weltstar begonnen hatte, erlahmte. Wir liebten und respektierten zwar unsere Meisterin und ihren Platz in der Tanzgeschichte, hielten jedoch das Pathos, das Weihevolle ihrer Epoche für überholt. Unsere Leitbilder waren Dore Hoyer, besonders aber Manja Chmièl, unsere experimentelle Techniklehrerin, Modell der Avantgarde. Als Wigmans Meisterschülerin, die zwei Jahre im Jooss Ballet getanzt hatte, war Chmièl im Begriff, eine stringente, sinnliche, hoch dynamische Tanzsprache zu entwickeln. Ihr Wunsch war es, die Struktur ihrer Tänze mit der Struktur der Zeit zu synchronisieren, rigoros entschlackt. Mit ihrer Erkundung der Gegenspannung im Körper wuchs auch der Widerstand gegen Wigman und den «Ausdruckstanz». 1962 formte sie noch im Wigman-Studio die Gruppe Neuer Tanz Berlin. Zeitgleich entstand, kurz in identischer Besetzung, die Studiogruppe Motion mit Brigitta Herrmann, Katharine Inge Sehnert und Hellmut Gottschild. Erste und einzige Freie Gruppe in Deutschland. Die Trennung von Wigman war unvermeidbar. Ich folgte Manja, als sie in der Fasanenstraße 23, dem heutigen Literaturhaus, ihr Studio für Neuen Tanz eröffnete als Assistentin. Der Begriff «Zeitgenössischer Tanz», er wurde schon damals geprägt.
Schub für die Berliner Tanzszene
Die schmerzliche Lücke, die Chmièl im Wigman-Studio riss, füllte Hellmut Gottschild aus. Er war bis zur Schließung des Studios 1967 Wigmans Assistent und übernahm von der kranken Meisterin die Lehre. Mit welcher Konsequenz er deren Essenz in entschlackter Form als Professor für Tanz an fast drei Generationen Studierender der Temple University Philadelphia weitergab, gehört zu den Phänomenen, von denen Wigman sprach. Er nennt das, was er übermittelte «gelebte Bewegung», im Kontrast zu «perfektionierter» Bewegung, denen die meisten seiner Studierenden ausgesetzt waren: von Technik «kolonialisiert». Für ihn blieb Wigmans Tanz Schwellenerfahrung und Berührungskunst. Gottschilds Studentin Christine Vilardo, die auch in seiner ZeroMoving Dance Company tanzte, blieb nach einem Gastspiel beim innovativen Festival der Akademie der Künste «Pantomime – Musik – Tanz – Theater» an der Quelle – und gründete 1978 die Tanzfabrik Berlin. Die TanzTangente Berlin folgte 1981 mit zwei direkten Wigman-Schülerinnen (Leanore Ickstadt und mir) nach.
Dass der Name Wigman in den USA noch heute Resonanz erzeugt, hat mit einem Sprung über den Ozean zu tun. Nach einem Presseverriss des letzten Multimedia-Septetts «Countdown für Orpheus» (in dem auch Susanne Linke und ich tanzten) war Motion (ohne Sehnert) 1968 in die USA ausgewandert und hat mit diesem Stück dort sofort reüssiert. Die freie Berliner Tanzszene blutete aus. Dore Hoyers Freitod und die Flucht der knieverletzten Manja Chmièl als Lehrerin nach Hannover, verstärkten die Drainage. Beiden wurde in dieser Zeit zwar der Kritikerpreis verliehen, das änderte aber nichts daran, dass Chmièl von der Tanzgeschichte nahezu vergessen wurde. Ihre radikale Kunst war in ein Vakuum gefallen. In Philadelphia wuchs Group Motion indes zum Multimedia Dance Theatre heran und kreiert bis heute. Den berühmten Freitag-Workshop leitet nach wie vor Brigitta Herrmann, mit internationaler Strahlkraft. Tänzer*innen bekennen heute freimütig, mit dem Namen Wigman gar nichts mehr zu verbinden. Das ist in Dresden, in der fein restaurierten Villa Wigman, ihrer einstigen Schule, freilich anders. Die junge Generation dort stellte uns «Alte» kritisch zur Rede, als wir an sie weitergaben, was noch in unseren Poren schlummerte: Gleiten, Kreise ohne Frontveränderung, Vibrieren, Spinning … Warum uns die Naziverstrickung unserer Meisterin nie ein Dorn im Auge gewesen sei, so insistierten sie. In der Tat waren wir zwar kritisch und rebellisch, aber die Aufarbeitung der Hitler-Ära begann schleppend erst in den 1970er-Jahren. Auf diesem Auge waren wir noch blind gewesen. Auch Wigmans Biografin Hedwig Müller, die nicht nachlässt, in Marys Tagebüchern zu forschen, hat diesen Aspekt erst spät tiefer beleuchtet.
Ein waches Auge lenkten Sehnert, Linke und ich indes als Hüterinnen von Wigmans Copyright auf Rekonstruktions-Anfragen. Wir gehören zum künstlerischen Beirat der Mary Wigman Gesellschaft im Tanzarchiv Köln. So coachten wir Fabian Barba bei seiner Spurensuche, als er «A Mary Wigman Dance Evening» von 1931 aufleben ließ. Die Jahrhundert-Ballerina Sylvie Guillem gestand mir bei den Proben zu «Hexentanz» und «Sommerlichem Tanz», von Wigman vor ihrer Recherche nie etwas gehört zu haben. Im Geschichtsunterricht der Pariser Oper war diese Ära gestrichen. Die Tanzmoderne begann dort mit Martha Graham. Christina Ciupke und Anna Till befragten in ihrem Stück «undo, redo and repeat», wie das Wissen von Generation zu Generation weitergereicht wird. Welche Erinnerungen wandern von einem Körpergedächtnis ins nächste und verzögern das Vergessen? Katharine Sehnert übermittelt wohl als Einzige weltweit Wigmans Sprache des Tanzes so, wie sie von ihr gelehrt wurde. Erst im Juli hat sie an der Bauhaus-Universität Weimar Film- und Medienwissenschaftler*innen bei der Wiederbelebung von Wigmans «Hexentanz» aus dem Jahr 1926 gecoacht. Tanz und Forschung, Recherche und Aufführung griffen ineinander.
Kurz vor ihrem Tod, als Pina Bausch das Wuppertaler Tanztheater gründete – bekannte Wigman, dass der Ausdruckstanz mit seinem «frischen Blut» seine Aufgabe erfüllt habe, «in dem er eingestoßen ist in etwas, was müde, ein bisschen staubig und verkalkt war, nämlich das deutsche Ballett … Er hat Staub gewischt, er hat sauber gemacht, er hat Anregungen gegeben. Das Klassische ist doch weg. Es ist doch alles modernes Ballett geworden.» – Ist es zwar nicht, jedoch spricht der klassische Tanz inzwischen auch andere Körperfremdsprachen. Die Feindschaft ist vorbei. Auch Pinas «Frühlingsopfer» von 1975 darf wandern. Wild und ungestüm hat das Staatsballett Berlin soeben diese Kostbarkeit lebendig gemacht. Dass der Wissensstrom nicht abreißt, auch das hat Wigman prophezeit. Die «Hoch»- und die «Tieftänzer», wie Tatjana Gsovsky den Kontrast zur hassgeliebten Mary beschrieb, sind keine Antipoden mehr.
Irene Sieben hat nach abgeschlossener Tanzausbildung bei Mary Wigman Tanzpädagogik studiert, war u. a. Mitglied der Gruppe Neuer Tanz Berlin von Manja Chmièl, über die sie gerade ein voraussichtlich 2024 im Drachen-Verlag erscheinendes Buch geschrieben hat. Es enthält auch ausführliche Passagen über die innovative Lehrweise Wigmans. Irene Sieben ist zudem Feldenkrais-Lehrerin

Tanz August-September 2023
Rubrik: Menschen, Seite 34
von Irene Sieben
tanz. Zeitschrift für Ballett, Tanz und Performance
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