Architekt des Tanzes

Eindrucksvoll, aber nicht lückenlos: Jennifer Homans' umfangreiche Biografie des Choreografen George Balanchine. Gelesen hat sie Gerhard Brunner

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Wer George Balanchine (1904 – 1983), den Mitbegründer und bis zu seinem Tod auch Leiter des New York City Ballet, als bedeutendsten Choreografen des 20. Jahrhunderts bezeichnet, wird kaum Widerspruch finden. Schwerer fiele es, seinen Rang und Ruhm gleich auszuweiten auf die ganze Ballettgeschichte. Wir wissen einfach zu wenig über Werk und Wirkung seiner frühen Wegbereiter. Balanchines choreografischer Werkkatalog umfasst 425 Titel. Das ganze russische Frühwerk und fast alle Arbeiten für die Ballets Russes sind verloren.

Unsere Wahrnehmung beginnt 1928 bei Opus 84, dem später «Apollo» genannten «Apollon musagète». Rund ein Fünftel der Werke ist durch Aufführungen so lebendig oder gut dokumentiert, dass sie Zeugnis geben von Balanchines choreografischem Genie. Zwei Dutzend der Ballette erfüllen auch bei strengem Anspruch alle Kriterien eines Meisterwerks. Was erklärt, warum Balanchine bis heute, vierzig Jahre über den Tod hinaus, geblieben ist, was er zu Lebzeiten war: Maß und Leitbild, zumindest für die Welt des klassisch akademischen Tanzes.

Sankt Petersburger Anfänge
Kein Wunder, dass diese Tanzwelt mit Neugier auf das Erscheinen eines Buches gewartet hat, das zugleich ...

Podcast: Im Spiegel
George Balanchine ist auf dem Buchmarkt gerade ziemlich en vogue. Außer Jennifer Homans’ Band sind unlängst zwei weitere Publikationen erschienen, Alice Robbs Erinnerungen «Don’t Think, Dear: On Loving and Leaving Ballet» und Meg Howreys Roman «They’re Going to Love You», die beide im Umfeld des Choreografen spielen. Für alle, die sich nicht durch viele Seiten blättern und wissen wollen, wie sich das NYCB nach Mr. B‘s Tod weiterentwickelt hat, haben die Ex-Tänzerin Erika Lantz und Elin Lantz Lesser einen Podcast aufgezeichnet, der sich eingangs mit der Karriere, dem Menschen, dem Künstler George Balanchine befasst. Dann aber kommt ungeschminkt zur Sprache, was beim NYCB und seinen Artverwandten womöglich noch immer im Argen liegt: dubiose Frauenbilder, Metoo, Diätitis, Druck, Drill und Depression. Zahlreiche Tänzerinnen tragen so lebendige wie deprimierende Schilderungen bei und werden zugleich gepeinigt von der eigenen, unverbrüchlichen Liebe zum Ballett. Neun einstündige Lektionen der Sonderklasse, zu finden unter dem Titel «The Turning. Room of Mirrors» kostenlos auf den gängigen Plattformen. Dorion Weickmann

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Tanz Mai 2023
Rubrik: Traditionen, Seite 48
von Gerhard Brunner

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