Opernwelt Jahrbuch 2012
Sängerin des Jahres
«Es muss alles von innen kommen»
Eine Überfliegerin ist sie nicht. Nina Stemme, die jetzt zum zweiten Mal nach 2005 zur «Sängerin des Jahres» gewählt wurde, geht ihre Aufgaben langsam und skrupulös an. Abwarten, analysieren, abwägen – das tut sie auch im reißenden Strudel einer Weltkarriere. Dann aber steht sie fest zu ihren Entscheidungen. So ist sie auf dem Olymp der Hochdramatischen angekommen – und weiß doch, dass sie Wagners Brünnhilde nicht mehr allzu oft singen wird. Einfach, weil sie die Partie nicht als Endstation sieht und neben ihr und nach ihr noch viele andere Rollen singen will. Gerade hat sie zum Beispiel Puccinis Minnie für sich entdeckt.
Aufführung des Jahres
Doppelbödiger Belcanto
Die Stuttgarter Staatsoper meldet sich zurück. In der ersten Spielzeit unter Intendant Jossi Wieler sorgte sie für die «Aufführung des Jahres»: Bellinis «La sonnambula». Der Hausherr und Sergio Morabito sind für diese Produktion außerdem als «Regisseure des Jahres» gewählt worden. Damit noch nicht genug: Ana Durlovski in der Partie der Amina ersang sich den Titel «Nachwuchssängerin des Jahres». Und, das ist keine Überraschung, sondern eine Bestätigung: Der Stuttgarter Opernchor ist – und bleibt – «Chor des Jahres». Der Stuttgarter Erfolg beruht auf Ensemblegeist und Ensemblearbeit. Es gibt (wieder) so etwas wie eine Identität des Hauses, für die sich alle einsetzen und aus der alle Kraft schöpfen. Die Beiträge auf den folgenden Seiten zeigen, was das konkret bedeutet.
Wieder auf der Landkarte
Umbruch, Wechsel, Neubeginn: Das Leitungsteam um Jossi Wieler hat an der Stuttgarter Staatsoper eine grandiose erste Spielzeit hingelegt. Nun stößt eine neue musikalische Führung dazu: Sylvain Cambreling
tritt sein Amt als GMD an, und einen neuen Chordirektor gibt es auch
Uraufführung des Jahres
«Ich bin zuerst und vor allem Komponist»
Die «Uraufführung des Jahres» behandelt einen uralten Stoff. Für «Orest», Ende 2011 in Amsterdam auf die Bühne gebracht, hat Manfred Trojahn nicht nur die Musik, sondern auch das Libretto geschrieben. Als Quellen benutzte er Euripides’ «Orestie» und Teile von Nietzsches «Dionysos-Dithyramben». Dabei ist für den Düsseldorfer Komponisten der Klang das Wichtigste. Dass, zumal im zeitgenössischen Musiktheater, das Sehen oft wichtiger genommen wird als das Hören, will Trojahn nicht akzeptieren. Ein Anwalt musikalischer Schönheit, der die traditionelle Literaturoper fortschreibt? Derlei Etikettierungen amüsieren den 62-Jährigen. Aber sie ärgern ihn auch. Was heißt überhaupt Tradition? Was ist heute noch neu? Ein Gesprächsporträt.
Opernhaus und Ärgernis 2012
Macht des Schicksals?
Er hatte noch viel vor. Die «Nummer eins» sollte die Kölner Oper werden. Uwe Eric Laufenberg war auf einem guten Weg. Innerhalb von drei Jahren hat er das Krisenhaus wieder nach oben gebracht. Doch dann war plötzlich Schluss. Finale einer Erfolgsstory, die im Dauerstreit um Geld und Kompetenzen versank und mit dem Rausschmiss des Intendanten endete. Wie konnte es so weit kommen? In den folgenden Beiträgen versuchen wir, die Bilanz einer paradoxen Entwicklung zwischen Euphorie und Depression zu ziehen – mit einem Essay über die mentalen Wurzeln einer vermeidbaren Konflikteskalation und mit der Würdigung eines künstlerischen Aufschwungs.
Drei Jahre Aufschwung
Künstlerisch waren Uwe Eric Laufenberg und Markus Stenz ein Glücksfall für die Kölner Oper. Versuch einer Bilanz
Giuseppe Verdi
Risorgimento, «ohne dass er daran gedacht hätte»
Über Giuseppe Verdi, dessen 200. Geburtstag 2013 gefeiert wird, sind viele Legenden im Umlauf, die auch in jüngsten Publikationen immer wieder aufgetischt werden. Dass er ein Bauer war, zum Beispiel. Oder dass er der Komponist des Risorgimento war. Beides trifft nicht zu, oder nur in sehr eingeschränktem Maße: Er war Millionär und Großgrundbesitzer, in der Rolle des einfachen Bauern inszenierte er sich gleichwohl gern. Außerdem spielte er im Risorgimento eine sehr viel geringere Rolle als vielfach behauptet. Sein berühmter «Gefangenenchor» wurde jahrelang überhaupt nicht als politische Botschaft verstanden. Ein Essay von Anselm Gerhard räumt mit Klischees auf und präsentiert neueste Ergebnisse der Verdi-Forschung. Außerdem auf den folgenden Seiten: ein Roundtable aus der Wiener Staatsoper (unter anderem mit Christa Ludwig) und Überlegungen von Uwe Schweikert zum Verdi-Gesang.
Accento verdiano: Verdi singen
Am 25. und 26. Juni 2012 fand in der Wiener Staatsoper eine öffentliche Tagung mit dem Titel «‹Poetischer Ausdruck der Seele›. Die Kunst, Verdi zu singen» statt. Veranstaltet wurde sie von der Europäischen Musiktheater-Akademie und der Staatsoper. Unter den Referenten waren Peter Berne, Daniel Brandenburg, Sieghart Döhring, Jürgen Kesting, Dominique Meyer, Emanuele Senici, Thomas Seedorf und Claudio Toscani. Außerdem gab es mehrere Roundtable-Gespräche. Ileana Cotrubas hielt eine Meisterklasse. Wir drucken im Folgenden das Gespräch, zu dem sich Christa Ludwig, Ramón Vargas, Bertrand de Billy und Stephan Mösch am 25. Juni im Teesalon der Staatsoper trafen. Krassimira Stoyanova, die die Runde ergänzen sollte, musste mit Blick auf eine am nächsten Tag stattfindende «Don Carlo»-Vorstellung und wegen einer leichten Erkältung absagen.
«Poetischer Ausdruck der Seele»
Was Verdi von seinen Sängern erwartete
Schwanengesänge
Gülden, grau und silberblau
«Ich hatte nie eine Stimme – wie hätte ich sie verlieren können?», fragte Tenor Hugues Cuénod augenzwinkernd kurz vor seinem 100. Geburtstag. Doch Spaß beiseite: Vielleicht wäre das ein Patentrezept für eine lange Sängerkarriere – mit der Stimme zu singen, die man hat, und nicht mit der, die man gern hätte. Cuénod gab sein Debüt 1928, und er hatte seinen letzten öffentlichen Auftritt 2002, das macht 74 Jahre. Wer sorgfältig mit der Stimme umgeht, kann ihre Qualität lange bewahren. Davon zeugen zahlreiche Aufnahmen von Sängern kurz vor dem Ende ihrer Karrieren – eben «Schwanengesänge». Doch inzwischen sind die jungen Alten selten geworden. Eine Bestandsaufnahme
Musiktheater in der DDR
Mit List und Lust durchs Märchenland
Ein Regime mit Grenzern und Spitzeln, Republikflucht und Zensur auf offener Bühne zu stürzen – das scheint schwer vorstellbar im Musiktheater der DDR unter Honecker und Mielke. Doch genau das geschieht in der Kinderoper «Das Land Bum-Bum» von Georg Katzer und Rainer Kirsch, 1978 uraufgeführt an der Komischen Oper Berlin. In der Inszenierung von Joachim Herz wird Systemkritik gedacht und geleugnet, entworfen und entzogen, verdreht und verschoben: ein Zickzack-Kurs an der Grenze zur Schizophrenie mit zensurpassablem Ergebnis. Die Entstehung lässt sich schrittweise nachvollziehen anhand umfangreicher Arbeitsmappen aus dem Nachlass des Bühnenbildners Reinhart Zimmermann im Archiv der Künste, erstmals gesichtet und ausgewertet für «Opernwelt».
Wem gehört die Musik?
Alles was recht ist
Das Internet hat den Umgang mit Musik revolutioniert. Sie soll jederzeit verfügbar sein, am besten unbegrenzt und kostenlos. Sie ist in einem bisher unerhörten Ausmaß Alltagsgegenstand geworden. Der Umgang damit gestaltet sich nach wie vor als Baustelle, denn die Folgen sind nicht nur wirtschaftlicher Natur: Mit dem Konsumverhalten hat sich auch das Rechtsempfinden grundlegend verändert. Piraterie gilt als Kavaliersdelikt, das Konzept vom geistigen Eigentum ist gewaltig ins Wanken geraten. Wem gehört die Musik?
Bilanz
Kick, Krise, Kater oder: Was bleibt von 2011/2012?
Die Bilanz der Spielzeit im Urteil von fünfzig Kritikern
Service
Bilanz
Aus einer Hand
Regie, Kostüme, Bühne: Dmitri Tcherniakov macht alles selbst, inzwischen in aller Welt
Bildnis des Künstlers als jünger werdender Mann
Hans Neuenfels und sein «Bastardbuch»