Opernwelt Jahrbuch 2010
Sängerin des Jahres 2010
«Ohne Intuition geht gar nichts»
Zweifellos ist sie eine der vielseitigsten Sängerinnen unserer Zeit: Marlis Petersen hat in der vergangenen Saison Aribert Reimanns «Medea» zum Triumph geführt und Mozarts Pamina unter der Leitung von René Jacobs aufgenommen, sie gastierte an der Metropolitan Opera als Lulu, war die Donna Anna beim Festival von Aix-en-Provence und Thaïs in Athen. Außerdem widmete sie sich dem Liedschaffen von Schumann und Brahms. Trotz dieses enormen künstlerischen Radius wirkt sie bei jedem ihrer Auftritte persönlich, unverwechselbar, authentisch. So wurde sie zur «Sängerin des Jahres» gewählt – eine Auszeichnung, die sie nach 2004 bereits zum zweiten Mal erhält, was wiederum ein bislang einmaliger Vorgang ist. Diese Künstlerin trotzt den Gefahren des Sängermarktes und kann ihr Niveau nicht nur halten, sondern weiterentwickeln und steigern.
Sänger des Jahres 2010
Die Geburt des Gesangs aus dem Geiste der Poesie
Christian Gerhaher macht sich rar auf der Opernbühne und hat sich den Titel «Sänger des Jahres» mit nur zwei Partien ersungen, abgesehen davon, dass er als Liedinterpret ohnehin eine Instanz ist. An den Staatsopern in Wien und München war er als Wolfram im «Tannhäuser» zu erleben, im Theater an der Wien in der Titelpartie von Henzes «Prinz von Homburg». Beiden Rollen hat er seinen Stempel aufgedrückt – mal mit, mal ohne die Hilfe eines Regisseurs. Einen «begnadeten Zauderer» nennt Dieter Borchmeyer in seiner Laudatio diesen Bariton, der totale Identifikation vermeidet und seine Hörer trotzdem erreicht und begeistert.
Uraufführung des Jahres 2010
Tragödie aus Feuer und Licht
Die «Uraufführung des Jahres» fand am 28. Februar 2010 in der Wiener Staatsoper statt: «Medea» von Aribert Reimann, nach dem dritten Teil von Franz Grillparzers Trilogie «Das Goldene Vlies». Ein Spätwerk des 1936 in Berlin geborenen Komponisten, insofern es die musikalischen Mittel reduziert, die Instrumentengruppen vielfältig auffächert und die Klangmischungen raffiniert austariert. Trotzdem ist «Medea» für ein reich besetztes Orchester geschrieben: Im Graben saßen die Wiener Philharmoniker (alias Staatsopernorchester), und der Komponist wusste das zu nutzen. Singstimmen sind ohnehin seine Spezialität: Für sie schreibt er mit selten gewordener Kennerschaft. Die Sänger in Wien waren optimal zusammengestellt und bewältigten ihre Aufgaben virtuos – allen voran Marlis Petersen in der
Titelpartie und Adrian Eröd als Jason. So kam das Stück, musikalisch geleitet von Michael Boder, nicht nur bei der Presse, sondern auch beim Publikum an. Die Ovationen nach der Premiere dauerten 25 Minuten. Am 30. November, 3. und 7. Dezember 2010 gibt es eine Wiederaufnahme, die für DVD mitgeschnitten wird.
Koproduziert wurde «Medea» von der Oper Frankfurt, wo sie im September und Anfang Oktober 2010 lief – mit völlig anderer Besetzung. Dirigent war Erik Nielsen. Claudia Barainsky und Michael Nagy gaben Medea und Jason neue Stimm- und Charakterfarben. Diese Produktion soll auf CD erscheinen.
Dirigent des Jahres 2010
Musik heißt: nachdenken
Die Moderne muss kein Ausnahmefall sein, sie kann auch zum Renner werden. Das hat vor
allem einer bewiesen: Ingo Metzmacher. Durch kluge Konzertprogramme, zuletzt mit dem Deutschen Symphonie-Orchester in Berlin, durch Opernproduktionen wie Nonos «Al gran sole» bei den Salzburger Festspielen 2009, aber auch mit unverquast formulierten Büchern. Metzmacher ist ein so kompromissloser wie umgänglicher Vorkämpfer. Und ein leidenschaftlicher Analytiker – etwa bei Schostakowitschs «Lady Macbeth von Mzensk» an der Wiener Staatsoper oder Schrekers «Der ferne Klang» an der Oper Zürich. Besonders für «Al gran sole» (Inszenierung: Katie Mitchell, Ausstattung: Vicki Mortimer, Klangregie: André Richard), aber auch für die anderen beiden Produktionen wurde Metzmacher zum «Dirigenten des Jahres» gewählt. Dass er auch 2010 bei den Salzburger Festspielen einen großen persönlichen Erfolg feiern konnte (mit der Uraufführung von Rihms «Dionysos»), passt da ins Bild.
Wiederentdeckungen 2010
Kinder, macht Neues!
Werden viele Werke zu Recht vergessen? Es gibt Musikfreunde, die das glauben: Was sich nicht auf den Spielplänen behauptet, kann ruhig in Archiven verstauben. Das ist keine neue Einstellung. Als Carl Orff 1925 Monteverdis damals völlig unbekannten «Orfeo» wiederbelebte, erntete er vor allem eines: Häme.
Andererseits: Nie zuvor gab es in der Oper (an Häusern jeder Größenordnung) so viel Neugier auf Verborgenes, ins Abseits Gedrängtes. Warum? Weil sich das Risiko lohnt und weil die Opernentdeckungen von heute nicht selten Repertoirewerke von morgen sind. Bei Monteverdi war das einst so. Später bei Cavalli, Vivaldi und anderen. Vitalität unserer Opernhäuser erweist sich nicht nur durch Uraufführungen und die Neudeutung vertrauter Stücke, sondern dann, wenn der Kanon in Frage gestellt wird. Auf den folgenden Seiten lassen wir die wichtigsten Wiederentdeckungen der Spielzeit 2009/2010 Revue passieren. Ihre stilistische Spannweite ist erstaunlich.
Wiener Welt
Aushalten, Haushalten, Durchhalten
Es war ein Abschied, wie ihn kein Regisseur besser hätte inszenieren können: eine Gala, die sechs Stunden dauert und an vierzig Premieren erinnert; als letzte Vorstellung dann dasselbe Stück wie zu Beginn der Ära;
Memoirenband, Sonderbriefmarke, Sonderpublikationen, Sondertorte, TV-Serie, natürlich auch Reden, Ehrungen, Schluchzer.... Ja, Ioan Holender weiß, wie man sich und seine Arbeit in Szene setzt. Neunzehn Jahre regierte der gebürtige Rumäne an der Wiener Staatsoper, länger als jeder Direktor vor ihm. Vieles, was in diesen Jahren dort passierte, war so nur in Wien möglich. Im «Opernwelt»-Gespräch blickt Holender zurück auf seinen Umgang mit Sängern, Regisseuren und dem Staatsopernorchester, auf seine Art zu sparen und auf die Rolle des Opernballs. Natürlich haben wir seine Nachfolger gefragt, was sie anders und besser machen wollen: Dominique Meyer und Franz Welser-Möst geben Auskunft. Dazwischen ein Kommentar zur ambivalenten Gemengelage von Holenders Direktionszeit.
Der lange Abschied
Eine Sechs-Stunden-Gala zu Ehren Ioan Holenders an der Wiener Staatsoper
Auf schwankendem Niveau
In seinem Buch «Ich bin noch nicht fertig» teilt Ioan Holender aus
Herr des Betriebs
Ioan Holenders Dienstzeit als Direktor war die längste in der Geschichte der Wiener Staatsoper. War sie auch künstlerisch herausragend? Anmerkungen zu einer Gemengelage
Lust auf die Knochenmühle
Der neue Generalmusikdirektor der Wiener Staatsoper, Franz Welser-Möst, über den Opernalltag, Probeneffizienz, Rotation im Graben und das «schönste» Opernorchester der Welt
Mehr Premieren, mehr Proben, mehr Stücke
Dominique Meyer, der neue Direktor der Wiener Staatsoper, gibt Auskunft über seine Pläne
Oper und Neue Medien
«Am Eros der Struktur arbeiten»
Zwischen der Oper und den Neuen Medien liegt eine Kluft. Gerade im Repertoirebetrieb fürchtet man, Musiktheater verlöre sein Gesicht, gäbe es sich den Interventionen medialer Bild-, Raum- und Klangwelten hin. Was aber sind Neue Medien überhaupt? Alles nur Hypes, die strikt nach dem Slogan «Kunst durch Strom» funktionieren? Oder nötigen sie uns nicht zu Fragen, die wir auch an die alten Medien richten müssen, wenn Oper als etwas Gegenwärtiges erhalten werden soll?
Mit diesen Fragen beschäftigt sich die Regisseurin Johanna Dombois. Dabei sucht sie das «Experimentelle im Repertoire», um traditionelle und zeitgenössische, analoge und digitale Stile, Medien und Spielformate so zu verbinden, dass die Magie der alten Fabeln jeweils aufs Neue profiliert werden kann. Im Rahmen des Symposions «PORTALE. Musiktheater > Neue Technologien > Neue Räume», das am 11. April 2010 im Cabaret Voltaire (Zürich) stattfand, führte Richard Klein, Herausgeber von «Musik & Ästhetik», mit ihr ein Gespräch, das wir hier in einer überarbeiteten und erweiterten Fassung abdrucken. Anlass bot die Schweizer Erstaufführung der «‹Ring›-Studie 01» von Dombois, eine Produktion, bei der die Online-Computerspielplattform «Second Life»® systematisch für die Inszenierung des Wagner’schen «Rheingold»-Vorspiels eingesetzt wurde.
Christoph Schlingensief
Kunst und Ritual
Christoph Schlingensief hat bis ans Ende seines viel zu kurzen Lebens fasziniert, kommuniziert – und sich verändert. In einer der letzten Eintragungen seines Blogs heißt es: «Pflegt das Normale. Das Normale ist das Höchste, was uns geschenkt wurde oder von den Eltern beigebracht wurde. Nutzt das!» Das schreibt derselbe, der einst die Aktion «Tötet Helmut Kohl» lostrat und die Staatsanwälte beschäftigte.
Durch seine Krebserkrankung und alles, was daraus folgte, ist Schlingensief vielen Menschen näher gekommen, die ihn vorher kritisch oder nur am Rande wahrgenommen hatten. Manche Nachrufe erinnern in Ton und Gehalt an Heiligenverehrung. Ein Mann des Musiktheaters im engeren Sinn ist Schlingensief nie gewesen, hätte das auch nie sein können (noch sein wollen). Dennoch oder gerade deswegen war sein «Parsifal» in Bayreuth 2004 eine zutiefst persönliche Arbeit. Wichtiger noch: die «Heilige Johanna» von Walter Braunfels an der Deutschen Oper Berlin, ein Bekenntniswerk des Komponisten, das zu einem Bekenntnis des Regisseurs wurde, auch wenn der die letzte Phase der Proben nur vom Krankenbett aus lenken konnte. Der Essay auf den folgenden Seiten erinnert an einen großen Künstler, der immer alles war: Bilderstürmer und Bildersucher, Wachrüttler und Egomane, Aktionist und Diener, Strahlemann und Schmerzensmann. Zwei Intendanten, die eng mit ihm zusammenarbeiteten, haben ihre Erinnerungen an Christoph Schlingensief für «Opernwelt» aufgeschrieben: Nikolaus Bachler und Jürgen Flimm.
Der Verzauberer
Jürgen Flimm über die Arbeit mit Christoph Schlingensief
«Du bleibst hier!»
«Du bleibst hier!» – Für Christoph von Nikolaus Bachler
Leben mit der Stimme
«Sie ist die genialste Frau, die mir je vorgekommen!»
Eigentlich wollte und sollte sie gar nicht Sängerin werden, sondern Pianistin. Doch dann wuchs sie zu einer Jahrhundertkünstlerin, und die Bühne wurde ihr Reich: Pauline Viardot-Garcia, die vor 100 Jahren starb, verfügte über einen Tonumfang von fast drei Oktaven, konnte sich schon als Teenager neben den Koryphäen ihrer Zeit behaupten, wurde nicht nur von Berlioz und Heine geliebt, sondern auch von George Sand, die sie in einem Roman porträtierte. Im Duett mit Richard Wagner sang sie eine private Voraufführung des zweiten «Tristan»-Akts. Giacomo Meyerbeer machte die Uraufführung seines «Propheten» von ihrer Mitwirkung abhängig. Was für eine Frau, was für eine Stimme, was für ein Leben muss das gewesen sein! Was uns an Dokumenten davon und darüber erhalten ist, hat Ekkehard Pluta gesichtet. Sein Essay verspricht eine spannende Zeitreise. Danach kommt einer der wichtigsten Gesangspädagogen unserer Zeit zu Wort: Rudolf Piernay kennt wie kaum ein Zweiter Chancen und Grenzen der Ausbildung und beantwortet einige grundsätzliche Fragen.
Aus der Werkstatt
Wenn Rudolf Piernay mit Sängerinnen und Sängern arbeitet, geht es immer ums Ganze.
Das konnte man etwa bei einer Meisterklasse in Bayreuth beobachten. Penibel und zugleich geduldig geht Piernay auf technische Probleme ein, die er in präziser Terminologie und körperlich anschaulich zu analysieren weiß. Das Unterrichten ist für ihn kein Nebenjob, sondern Lebensinhalt – seit Jahrzehnten. Ein Gespräch über einige grundsätzliche Fragen der Gesangsausbildung
50 Jahre «Opernwelt»
Ausblick und Rückblick
Am 28. August 2010 fand das große Geburtstagsfest für «Opernwelt» statt. Unter dem Motto «Was soll das Theater? Fünf Minuten Zukunft» hatten wir Redner unterschiedlichster Couleur um ihre persönliche Vision gebeten
Ein Ort der Überraschung
Annette Dasch über die Ersetzbarkeit von Sängern und die Unersetzbarkeit der Oper
Erfahrungsraum, kein Mitteilungsraum
Jens Joneleit erläutert, warum man heute immer noch Opern schreiben kann
Die Dinge reifen lassen
Christian Thielemann über die Notwendigkeit der (Selbst-)Beschränkung
Die Ecke, nicht der große Kreis
Was Barrie Kosky sich für die Oper der Zukunft wünscht
Schlingensiefs letzte Idee
Stephan Braunfels über ideale Räume für das Musiktheater
Diskussion Musikkritik
1969: «Opernwelt» als Podium für eine Debatte über Musikkritik
Tradition und Revolution
Forum | Seit fünfzig Jahren ist «Opernwelt» ein Podium für Disput. Theatermacher und Kritiker, Künstler und Manager haben sich immer wieder zu Wort gemeldet, durch Essays, im Interview, oder auch, wie beim folgenden Text, im Streitgespräch. Als Pierre Boulez einst forderte, man solle die Opernhäuser in die Luft sprengen, war Rolf Liebermann von der Hamburgischen Staatsoper der am schärfsten angegriffene Intendant. «Opernwelt» druckte in der Februar-Nummer des Jahres 1968 eine Auseinandersetzung der beiden Kontrahenten.
Nachwuchs im Blick
Nachwuchs im Blick | Von ihm gab es noch keine einzige Platte, da hatte «Opernwelt» Plácido Domingo schon
vorgestellt (in Heft 2/1968). Das erste Porträt von Claudio Abbado erschien 1972. Donald Runnicles war noch Korrepetitor in Mannheim, als er «Opernwelt» auffiel.
Oper und Anti-Oper
Moderne | Die Entwicklung des zeitgenössischen Musiktheaters hatte «Opernwelt» von Anfang an im Blick. Nur drei Beispiele: Imre Fabian, langjähriger Chefredakteur, suchte den Dialog mit seinem ungarischen Landsmann György Ligeti, dessen «Grand Macabre» gerade uraufgeführt worden war (Heft 6/1978). Karlheinz Stockhausen gab Auskunft über seinen «Licht»-Zyklus (Heft 6/2005), Helmut Lachenmann, 1997 «Komponist des Jahres», über sein «Mädchen mit den Schwefelhölzern» (Jahrbuch 1997).
Mode im Foyer und Cantophonübungen
Rat und Tat | Auch das gab es in «Opernwelt»: Lebenshilfe für den Fan und den um die ramponierte Stimme besorgten Sänger. Die (redaktionellen!) Tipps zum passenden Opern-Outfit für den Herrn fanden sich 1962, die Anzeige für die Gesangsübungen «Cantophon» (Schallplatte plus Broschüre für 30 DM) 1964.
Als Schaljapin, Caruso, Lotte Lehmann und Richard Tauber sangen...
Kunst des Gesangs | Der Starkult in der Oper ist so alt wie die Ansicht, dass früher besser gesungen wurde. Ulrich Schreiber, langjähriger «Opernwelt»-Autor und Verfasser des vierbändigen «Opernführers für Fortgeschrittene», dachte im Januarheft 1968 über das Phänomen des Stimmfetischismus nach.
Bilanz
Teamwork oder: Was bleibt von 2009/2010?
Die Bilanz der Spielzeit im Urteil von fünfzig Kritikern
Risiko und Verantwortung
Die «Nachwuchskünstlerin des Jahres» heißt Svetlana Ignatovich. Entdeckt hat sie der Basler Operndirektor Dietmar Schwarz. Hier erläutert er, warum er einer jungen, völlig unbekannten Sopranistin Puccinis Madama Butterfly anvertraute und warum sie in dieser Partie Erfolg hatte
Verliebt in die Verpackung
Münchens Kulturpolitiker lieben die Verpackung, und mancher Theatermacher zieht nicht ungern mit
Virtuose Rollenspiele
Cecilia Bartoli bei virtuosen Rollenspielen
Bodenständig, weltoffen
Eine kleine Geschichte des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters
aktuell
Am 1. Oktober erschien das Jahrbuch der Opernwelt
Schwerpunkt des Jahrbuches ist die Umfrage unter 50 Opernkritikern, die die besten Künstler und Produktionen des Jahres gekürt haben.