Zimmer mit Aussicht
Gleich vielen Figuren in den Dramen von Tschechow kommt auch Tschaikowskys Tatjana das landadelige Leben mit seinen bescheidenen Abwechslungen allzu unaufgeregt vor. Die junge Frau flüchtet sich daher in die Welt der Dichtung; für Mutter und Schwester sowie den langweiligen Alltag um sie herum erübrigt sie kaum einen Seitenblick. Da ist es kein Wunder, wenn eines Tages einer der Romanhelden «tatsächlich» vor ihr erscheint.
Laurent Pelly schildert die Ereignisse in Brüssel aus Tatjanas Sicht.
Für den französischen Regisseur ist sie zunächst nichts als eine kaum dem Mädchenalter entwachsene Frau; ihre Brief-Arie wähnt Pelly gleichsam von Salonmusik inspiriert. Doch ist «Eugen Onegin» kein Werk, das den Adel mit sentimentalen Romanzen etwa in der Manier Paolo Tostis beliefert; unter der Oberfläche der idolsüchtigen Tatjana erschließt Tschaikowsky einige musikalische Tiefendimensionen. Von hier aus weitet sich der Horizont zu allgemeinmenschlichen Leidenschaften. Freilich bedarf es eines gewissen materiellen Komforts, um diese ausleben zu können. Deswegen bleibt bei Pelly das Werk im zaristischen Russland situiert. Tatjana frönt dort ihren Sehnsüchten, Onegin jenem grenzenlosen Ennui, ...
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Opernwelt März 2023
Rubrik: Panorama, Seite 56
von Michael Kaminski
Das ganze Drama ist im Grunde erzählt, noch bevor viele Worte gefallen sind. Der Schmerz, die Sehnsucht (welche nur diejenigen Menschenkinder wirklich kennen, die wissen, welches Leiden mit ihr einherzugehen vermag), der Dualismus aus Liebestäuschung und -ent täuschung, die tiefsitzende Verzweiflung, das einsickernde Gift der Rache – alles ist bereits im «Prelude»...
Ihr Glanz und ebenso ihr Elend ist hinreichend, mit staunenswerter Grandezza beschrieben worden. Und nicht erst im gleichnamigen Roman warf Honoré de Balzac im Frankreich des Bürgerkönigs Louis-Philippe, der nach der Julirevolution 1830 auf den Thron gespült worden war, einen liebevoll-strengen, zugleich zarten Blick auf die Kurtisanen von Paris. Schon im parallel...
Frau Aristidou, wenn man die Fotos betrachtet, die es von Ihnen gibt, fällt auf, dass diese sehr unterschiedlich sind. Besitzen Sie mehrere Identitäten?
(lacht) Ich glaube, nicht. Es kommt darauf an, in welchem Augenblick die Fotos gemacht wurden, in welcher Stimmung ich gerade war. Aber eigentlich bin ich immer derselbe Mensch – wobei die Fotos, die vermutlich am...