Woher, wohin, warum? Was bleibt von 2016/17?

Die Bilanz der Spielzeit im Urteil von 50 Kritikern

Opernwelt

Vor drei Jahrzehnten, kurz vor dem Mauerfall und Ende der Nachkriegsordnung in Europa, prägte der Soziologe Ulrich Beck einen Begriff, der bis heute einen Nerv trifft: Risikogesellschaft. In seiner gleichnamigen, 1986 veröffentlichten Studie beschrieb er eine fundamentale Wende im «Projekt der Moderne»: von der Idee stetigen Fortschritts und grenzenlosen Wachstums zum Wohle aller hin zur (gefühlten) Realität unbeherrschbarer, existenzbedrohender Gefahren für alle.

Der Eindruck, in unkalkulierbaren Zeiten zu leben, ist heute weit verbreitet, das damals eingeführte Schlagwort von der «neuen Unübersichtlichkeit» (Jürgen Habermas) zu einem Gemeinplatz kritischer Diskurse geworden. Niemand weiß, ob oder wie die Kollateralschäden der von Wissenschaft, Technik und Wirtschaft entfesselten Produktivkräfte behoben werden können. Angesichts der Praktiken global vernetzter Unternehmen, die – man denke nur an die großen Spieler der digital economy – nach eigenen Regeln zu operieren scheinen, schwindet zudem das Vertrauen darauf, dass demokratisch legitimierte Politik, Justiz oder die Zivilgesellschaft Fehlentwicklungen nachhaltig korrigieren können. Nicht nur auf den Arbeitsmärkten greifen prekäre Verhältnisse um sich, sie herrschen auch in vielen Köpfen – und münden nicht selten im von Populisten befeuerten Ruf nach einem Früher, das vermeintlich in allen Belangen besser war.

Natürlich hilft es wenig, neue Probleme mit alten Rezepten zu bekämpfen. Aber ernst nehmen, als Herausforderung begreifen sollte man die Ängste vor den Zumutungen der postindustriellen Gegenwart schon. Auch und gerade im Musiktheater, einer ressourcenintensiven Sphäre, die in Debatten um die gesellschaftliche Relevanz der Künste immer noch, trotz längst vielschichtiger Besucherströme, als exklusives Vergnügen weniger Privilegierter wahrgenommen wird.

Gewiss hat die seit Jahren anhaltende Erfolgsbilanz der Opéra de Lyon auch damit zu tun, dass mit Serge Dorny dort ein für den Puls der Gegenwart besonders hellhöriger Intendant die Geschäfte führt. Gleich nach seinem Antritt 2003 begann er, das Haus fit für die Zukunft zu machen. Und das bedeutete: den Kontakt zu Menschen zu suchen, die zuvor draußen vor der Tür geblieben waren. Etwa zu den jungen Straßenakrobaten, die bis heute die Eingangsarkade als Trainingsparcours nutzen. Oder zu Kindern aus sozial schwachen Familien, die dank eines Sonderprogramms der Oper Musik- und Gesangsunterricht erhalten. Oder durch Eintrittspreise, die bewusst auf kleine Börsen zugeschnitten sind. Ergebnis: ein jugendfrisches Publikum, das für Mozart oder Verdi so offen ist wie für Raritäten und neue Stücke, die in Lyon regelmäßig auf dem Spielplan stehen. Die Saisonprogramme verraten die Handschrift eines klugen dramaturgischen Kopfes, der bei der Auswahl der Werke und Künstler nie das große Ganze aus dem Auge verliert. Zum Beispiel die entscheidende Frage, warum und in welcher Weise uns Geschichte(n) und Gegenwart der Oper angehen.

Exemplarisch war das beim traditionellen Frühjahrsfestival im März zu erleben: Dorny stellte Rekonstruktionen dreier als Meilensteine geltender Produktionen des sogenannten «Regietheaters» zur Diskussion: Ruth Berghaus’ Dresdner «Elektra», Heiner Müllers Bayreuther «Tristan und Isolde» und Klaus Michael Grübers «L’incoronazione di Poppea» aus Aix. Doch diese Erinnerungsarbeit war kein Akt nostalgischer Verklärung, um den Wirrnissen des Jetzt zu entfliehen, sondern ein Angebot, über das Woher, die Historiziät und Vorläufigkeit ästhetischer Erfahrung nachzudenken. Vergegenwärtigte, zukunftsrelevante Geschichte sozusagen. Auch dafür ist die Opéra de Lyon zum Opernhaus des Jahres gewählt worden – zum ersten Mal geht der Titel damit nach Frankreich (Seite 4).

Ihr waches Gespür für Künstler, die Wegmarken im labyrinthischen Dickicht unserer Tage setzen, hat die équipe um Serge Dorny nicht zuletzt mit dem Engagement Romeo Castelluccis bewiesen: Für seine Inszenierung von Honeggers «Jeanne d’Arc au bûcher» schuf der Bühnenbildner des Jahres in Lyon einen hermetisch-leeren Raum, der wie eine Echokammer innerer Verwerfungen wirkt. Konkrete Bildlichkeit und ab­strakte Symbolik verbinden die Raumvisionen, die Castellucci (Regisseur des Jahres 2014) für seine umstrittene Lesart von Wagners «Tannhäuser» an der Bayerischen Staatsoper München entwarf: Installationen, die kaum als illustrierende Kulisse taugen, eher Musik, Stimmen, Sprache, Körper eine rituelle, gleichsam entstofflichte Aura verleihen – das Vergängliche, hier wird’s Ereignis (Seite 124).

Vor allem der zweite Akt scheint nicht von dieser Welt: Transparente Gaze-Bahnen wehen da in diffusem Licht: die Wartburg als enigmatisches Luftschloss. Wie geschaffen für jene entrückte, unnahbar-unfassbare Elisabeth, der Anja Harteros die schmerzend schönsten Sehnsuchtstöne schenkt. Für diese Partie, aber auch für ihre Münchner Maddalena in Giordanos «Andrea Chénier» und ihre Sieglinde auf einer 50 Jahre alten «Walküre»-Bühne nach Günther Schneider-Siemssen bei den Salzburger Osterfestspielen ist die Sopranistin zum zweiten Mal nach 2009 Sängerin des Jahres (Seite 16).

Das Ungreifbare, Ephemere, Unbegreifliche der (postmodernen) menschlichen Existenz, die Fragilität aller Bedeutung, der Verlust verbindlicher Werte und Orientierung bilden auch die Leitmotive des absurden, aus dem Geist der Musik geborenen bitter-komischen Theaters von Christoph Marthaler. Dass seine Hamburger Fassung der «Lulu» von Alban Berg Aufführung des Jahres wurde, verdankt sich wohl nicht zuletzt dem kongenial realisierten Versuch, die unvollendet überlieferte Oper mit dem Violinkonzert «Dem Andenken eines Engels» zu konfrontieren (Seite 28). Neben Barbara Hannigan (2013 Sängerin des Jahres) gehörte Matthias Klink (als Alwa) zu den überragenden Sängerdarstellern dieser Produktion. Als Sänger des Jahres aber setzte sich der Tenor vor allem mit seiner vokal wie spielerisch unvergleichlichen Verkörperung des Aschenbach in Benjamin Brittens «Death in Venice» durch (Seite 19). Klinks grandioses Rollenporträt stand im Zentrum einer traumhaften Inszenierung an der Oper Stuttgart, die dem jungen Choreografen Demis Volpi den Titel Nachwuchskünstler des Jahres einbrachte – mit Brittens melancholisch-erotischer Weltabschiedselegie zeigte er seine erste Opernregie (Seite 132).

Apropos «Regietheater»: Allgemeine Verunsicherung als Grundklang der heutigen Lebenswelt – sie scheint sich im Opernbetrieb am deutlichsten durch ein zunehmend als beliebig, epigonal, repetitiv oder retrospektiv wahrgenommenes Allerlei szenischer Handschriften auszudrücken. Fast ein Drittel der Voten in der Kategorie Ärgernis des Jahres entfielen auf einzelne Regiearbeiten – aus sehr unterschiedlichen Gründen: Das Unbehagen entzündete sich an der Berufung handwerklich unerfahrener big names, postdramatischer Deutungsverweigerung, an effekthascherisch-hohlem Übereifer oder prätentiös-geistesschwachen Aktualisierungsbemühungen. Nicht die Notwendigkeit zeitkritischer Exegesen wird in Zweifel gezogen, sondern das Niveau der Auseinandersetzung mit den Werken. Letztlich geht es hier um die Frage, ob man generell vom Altern des modernen Regietheaters sprechen kann (Seite 34).

Andererseits: Unter den mehrfach für exzeptionelle Arbeiten nominierten Regisseuren finden sich vor allem Namen, die seit Jahren für gedankenscharf-sinnliche Qualität einstehen. Knapp die Nase vorn hat diesmal Dmitri Tcherniakov (Bühnenbilder des Jahres 2012): Für seine kühne «Carmen»-Therapie beim Festival in Aix-en-Provence und die liebevoll präzise konturierte Aussteiger-Welt in Rimsky-Korsakows «Snegurotschka» an der Bastille Oper in Paris ist er zum Regisseur des Jahres gewählt worden (Seite 114).

Geärgert hat sich mancher Beobachter hingegen über die «Parsifal»-Inszenierung des Bayreuth-Einspringers Uwe Eric Laufenberg. Dass die Abende auf dem Grünen Hügel trotzdem Maßstäbe setzten – 2016 und abermals während des jüngsten Festspielsommers –, ist Hartmut Haenchen zu verdanken, dem Zuchtmeister eines historisch informierten, konturscharfen, sinnlich-schlanken Wagner-Klangs, der den größtmöglichen Kontrast zu karajanesker Legato-Feierlichkeit markiert. Kaum zu glauben, dass der seit Jahrzehnten im Ausland hochgeschätzte Dirigent des Jahres zum ersten Mal nach Bayreuth engagiert wurde – im Zuge eines Notrufs, nachdem Andris Nelsons kurz vor der Premiere nach Unstimmigkeiten hingeschmissen hatte. Haenchen war es auch, der mit dem Orchester der Opéra de Lyon für atemraubende «Elektra»- und «Tristan»-Erlebnisse sorgte (Seite 42). Orchester des Jahres ist – zum sechsten Mal und zum vierten Mal in Folge – das Bayerische Staatsorchester in München, das sich nicht nur unter Kirill Petrenko (dem Dirigenten der Jahre 2007, 2009, 2014 und 2015) in Hochform präsentiert (Seite 48).

Vergleichsweise dicht gestaffelt liegen die Voten in der Kategorie Wiederentdeckung des Jahres: Ausweis einer vitalen Neugier, die an vielen Orten Vergessenes ans Licht holte. Als Großtat wurde hier vor allem das Wagnis des Landestheaters Linz gewertet, Hindemiths Kepler-Oper «Die Harmonie der Welt» wieder auf die Bühne zu wuchten. Eindeutig ist die Wahl der Uraufführung des Jahres: Chaya Czernowins experimentelles Musiktheater «Infinite now», eine Koproduktion der Opera Vlaanderen Antwerpen/Gent, des Nationaltheaters Mannheim und des Pariser IRCAM, erhielt die meisten Stimmen (die nächstplatzierten neuen Stücke kamen in Karlsruhe und Glyndebourne heraus: Avner Dormans «Wahnfried» bzw. Brett Deans «Hamlet»). Ein Werk, das auf den rasenden Stillstand, den audiovisuellen Overkill des digitalen Zeitalters mit einer aus der Stille tönenden Ästhetik der Langsamkeit reagiert (Seite 22). Reduziert, abstrakt, konzentriert auch die Anmutung der von Luk Perceval verantworteten Erstproduktion – das Gegenteil von jener knallend karikaturesken, poppig-schrägen Opulenz, die Gianluca Falaschi, der Kostümbildner des Jahres, kultiviert. Zum Beispiel in dem grotesken Porzellanfigurenkabinett, das er für Lydia Steiers Neudeutung der Gluck’schen «Armide» in Mainz ausstaffiert hat (Seite 128).

Der Chor des Jahres ist wieder an der Oper Stuttgart zu Hause, zum siebten Mal seit 2002. Die CD des Jahres hat Diana Damrau mit dem Orchestre de l’Opéra Natio­nal de Lyon unter Emmanuel Villaume aufgenommen – «Meyerbeer: Grand Opéra» (Erato) –, Buch des Jahres ist der Band «Oper. Geschichte einer Institution», in dem Michael Walter die Summe seiner soziologisch-historischen Forschungen zu den Bedingungen des Opernbetriebs zieht (Metzler).

Zu guter Letzt: In ihren Nuancen erfassen lässt sich diese Saisonbilanz nur, wenn man die Voten aller 50 Beobachter studiert, die an unserer Umfrage teilgenommen haben. Deshalb drucken wir sie, wie jedes Jahr, vollständig ab. Denn es ist, wie jedes Jahr, das Konzert der Einzelstimmen, aus dem sich das Bild der vergangenen Spielzeit zusammensetzt.  


Opernwelt Jahrbuch 2017
Rubrik: Bilanz, Seite 104
von Albrecht Thiemann

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