Wirklichkeit und Wahn

Kasper Holten inszeniert zur Saisoneröffnung der Mailänder Scala Mussorgskys «Boris Godunow» in der Urfassung als historischen Bilderbogen, ein düsteres politisches Sittenbild liefern allein Riccardo Chailly und sein Orchester

Kürzlich ist postum der dritte Band von Günther Rühles «Theater in Deutschland» erschienen. Wie in den vorangehenden Bänden fordert der renommierte Kritiker und Intendant in seiner Theatergeschichte, dass in Inszenierungen die Gegenwart für den Zuschauer spürbar sein müsse; ohne Zeitbezug verlöre das Theater Relevanz. Dass das einem heiklen Balanceakt gleicht, ist täglich in deutschen Schauspielund Opernhäusern zu erleben. Allein, um aktuell zu sein, genügt es nicht, den Text, eine Partitur mit Gegenwartschiffren zu illustrieren. Die Folie des Politischen ist ästhetisch rissig.

In dieser Hinsicht verzichtete die Neuproduktion von Mussorgskys Oper «Boris Godunow» an der Mailänder Scala auf naheliegende Anspielungen an das zerbrochene Verhältnis von Europa und Russland nach dessen Angriff auf die Ukraine. Derart unsensibel gegenüber den Zeitläuften hätte Kasper Holtens Inszenierung andererseits nicht ausfallen müssen. Der Krieg spielte kurz vor der Premiere immerhin realpolitisch eine Rolle. Andrej Kartysch, der ukrainische Konsul in Mailand, warf dem Scala-Intendanten Dominique Meyer vor, mit der Aufführung russische Propaganda zu betreiben, und forderte die Absetzung des Werks. In ...

Weiterlesen mit dem digitalen Monats-Abo

Sie sind bereits Abonnent von Opernwelt? Loggen Sie sich hier ein
  • Alle Opernwelt-Artikel online lesen
  • Zugang zur Opernwelt-App und zum ePaper
  • Lesegenuss auf allen Endgeräten
  • Zugang zum Onlinearchiv von Opernwelt

Sie können alle Vorteile des Abos
sofort nutzen

Digital-Abo testen

Opernwelt Februar 2023
Rubrik: Im Focus, Seite 14
von Götz Thieme

Weitere Beiträge
Zwischen den Fronten

Uraufführungen gehören an der Oper Erfurt zum guten Ton. 20 in Auftrag gegebene und dort erstmalig aufgeführte Novitäten seit Bezug des Neubaus 2003 bilden eine beachtliche Bilanz für ein Haus dieser Größe.

In der aktuellen Spielzeit unter dem Delphi-Motto «Erkenne dich selbst» wird nun ein Kapitel der Nachkriegsgeschichte des modernen Griechenlands aufgeschlagen....

Narziss und Vollmund

In einem Interview hat Helmut Lachenmann vor Jahren einmal einen bemerkenswerten Satz gesagt: «Ich werde komponiert.» Abseits der Tatsache, dass dies semantisch wie real schwierig ist, da nur der Komponist Lachenmann in der Lage ist, Töne und Klänge, welcher Art auch immer sie sein mögen, zu erfinden, steckt in diesem Satz doch auch ein dickes Körnchen Wahrheit....

Zwischentöne

Sangs» hat die französische Altistin Sarah Laulan ihr in enger Zusammenarbeit mit der Pianistin Élodie Vignon entstandenes Recital benannt und spielt mit dieser grammatikalisch inexistenten Mehrzahl des französischen Worts für «Blut» auf das Pulsieren und Strömen des menschlichen Lebens an. Im übertragenen Sinn meint es die Blutauffrischung, die die Komponisten...