Störfeuer im imaginären Museum
Skandale gibt es, im Leben wie in der Kunst, immer wieder. Sie sind unverzichtbares Element beider Sphären und nicht selten dazu angetan, die Aufmerksamkeit für einen Vorgang zu erhöhen, der womöglich sonst von der Rezeption vergessen oder doch zumindest nicht in gleicher Weise Beachtung finden würde.
Während jedoch politische Skandale allein aufgrund ihres übergreifenden Interesses von einer breiten Öffentlichkeit meist aufgearbeitet und so in ihrer ganzen Tragweite «dechiffriert» wurden, gerieten theatrale Skandale nicht selten bald in Vergessenheit, vermutlich der fehlenden systemischen Relevanz wegen. Ihnen haftet das Signum an, kaum mehr zu sein als «Grillen der Realität» oder «Girlanden des Politischen» (wenn nicht gar des bloß Ästhetischen), «die das Wirkliche doch nur verbergen; bisweilen amüsant, doch belanglos», wie es der Soziologe Sighard Neckel einmal sehr schön auf den Punkt brachte.
Robert Sollich nimmt den (musik)theatralen Skandal als «Präzedenzfall einer Ästhetik des Performativen» in den Blick. «Die Kunst des Skandals» lautet der doppelbödige Titel seines Buches, dessen Grundlage jene Dissertation bildet, die Sollich 2019 einreichte. Neben der theaterästhetischen legt der Autor eine «kunst- bzw. theatersoziologische Sichtachse» an den Gegenstand an, sprich, er klopft ausgewählte Skandale der deutschdeutschen Nachkriegs(Opern)geschichte «genuin politischer Couleur» auch «auf ihre gesellschaftliche Funktionalität hin» ab. Und nichts Geringeres hat der Musikwissenschaftler im Sinn als eine dialektische Durchleuchtung des Faszinosums namens «Skandal»; in der Mehrzahl sind es für den Autor «Ausnahmeerscheinungen eines zeitgenössischen Kunstbetriebs, dessen Werteordnung […] auch jenseits solcher, gelegentlicher Eskalationen permanenter schleichender Veränderung unterworfen ist». Gleichsam als Wegweiser und Pate für seine historiographische Studie dient ihm – neben vielen anderen Intellektuellen – insbesondere Pierre Bourdieu und dessen in der Studie «Die Regeln der Kunst» etablierte Feld-Theorie; das «Feld» verstanden als die Summe aller Kräfte, die wirksam sind (oder es werden), um ein Phänomen wie die Kunst ganz allgemein und gesellschaftlich zu definieren. Im Prolog, einer umfassenden Darstellung der soziologischen Voraussetzungen eines jeden Skandals, definiert Sollich diesen als Abweichung vom Status quo, sprich: von einer bestimmenden geltenden oder diese Geltung beanspruchenden Norm. Der Skandal, so seine These, bricht diese Norm auf, um sie als eine gesellschaftliche zu definieren, er dient gewissermaßen als eine Art Instanz, die sich Luft verschafft und bestehende Normen durchlüftet, um eine neue, womöglich über die Grenzen des Theaters hinausreichende Kontroverse anzustoßen, die den disparaten Diskus der gegenseitigen Erregung (denn um eine solche handelt es sich nolens volens in ausnahmslos allen ausgesuchten Fällen) in einen Diskurs mit Nährwert umwandelt. Da der Autor zugleich den Anspruch hat, «eine Operngeschichte seit 1945» zu verfassen, nimmt er sich – nach einer Einlaufkurve mit den Skandalen um Henzes «König Hirsch» und Schönbergs «Moses und Aron» an der Städtischen Oper Berlin – schwerpunktmäßig der berühmten Bayreuther «counter-performances» (Neil Blackadder) an, vor allem derer, in denen Wieland Wagners Abwendung von dekorativer Kunstanschauung die Gemüter erregte. Mit einer Vielzahl an Dokumenten belegt der Autor, dass es sich in beiden vorliegenden Fällen («Die Meistersinger von Nürnberg» 1951 und 1963) wie in vielen anderen Kontroversen, um «planned affairs» (Everett Helm) handelte, die einer (in gewissen konservativen Kreisen vorherrschenden) Doktrin folgte, wonach jede Retusche am musealen Gegenstand zugleich als eine Art Sakrileg zu gelten hatte, und dass es im Wesentlichen jene reaktionären Kräfte waren, die sich gegen den demokratischen Aufbruch in der BRD stemmten, die auch in Bayreuth für einen Eklat sorgten. Mit anderen Worten: Was sich auf dem künstlerischen «Feld» abspielte, war letztlich nur der Vorschein für jene (tieferliegende und weiterreichende) grundsätzliche politische Debatte, die sich, was Sollich stichhaltig zu belegen weiß, gesamtgesellschaftlich gleichsam «ereignete».
Diese Diagnose zieht sich wie ein roter Faden durchs Buch. Auch die Skandale um die Regiearbeiten von Hans Neuenfels an der Oper Frankfurt in den 1970er-Jahren wurden begleitet vom gesamtgesellschaftlichen Dissens zwischen den Lordsiegelbewahrern des «imaginären Museums» (Lydia Goehr) und einer künstlerisch wie politisch wachen (linksliberalen) Avantgarde, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, den Staub aus den bundesdeutschen Politikregalen zu pusten. Dass sich derartige Auseinandersetzungen, obschon in anderer Ausprägung, auch in der DDR abspielten, belegt Sollich akribisch anhand jener Skandale, die rund um Ruth Berghaus’ späterhin akklamierte Regiearbeiten an der Deutschen Staatsoper entfacht wurden; einmal am Beispiel der Oper ihres Ehemanns Paul Dessau (die zunächst «Das Verhör des Lukullus» hieß und dann auf autokratisch-staatlichen Druck zur «Verurteilung des Lukullus» umgedichtet wurde) und anhand ihrer Lesarten von «Elektra» und «Freischütz». Was alle diese Skandale eint, war die Tatsache, dass sie zwar auf künstlerischem «Feld» ausgetragen wurden, aber für ein politisches «Feld» bestimmt waren. Und damit die Eingangsthese des Autors eindrücklich bestätigen.
ROBERT SOLLICH: DIE KUNST DES SKANDALS
Eine deutsche Operngeschichte seit 1945 Wehrhahn, Hannover 2023. 656 Seiten; 38,00 Euro
Opernwelt Februar 2024
Rubrik: CDs, DVDs und Bücher, Seite 31
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