Fliehende Zeit
Thornton Wilder veröffentlichte 1931 seinen Einakter zum Fest: «The Long Christmas Dinner». Darin bringt er ein Weihnachtsmenü auf den Tisch, das, streng genommen, neunzig Jahre dauert. Hier werden Handlungen, Ereignisse, Stimmungen eines knappen Jahrhunderts mosaikartig zusammengetragen; während die Ahnen auf der einen Seite die Bühne verlassen, kommen ihre Nachfahren von der anderen hereinspaziert. Dank dieser klugen Montagetechnik erleben wir die Jahre im Eiltempo.
Paul Hindemith lernte dieses Werk gegen Ende der fünfziger Jahre kennen, fand es aber in der vorliegenden Form für eine Vertonung ungeeignet. Er wandte sich an den Autor und bat ihn um eine operntaugliche Bearbeitung. Wilder stimmte zu. Hindemith entwickelte daraufhin einen Fahrplan, eine Strukturskizze, in der er festlegte, wo er sich Platz für Duette oder Terzette wünschte bzw. wo er Textpassagen für überflüssig hielt. Nachdem Wilder diesen Wunschzettel umgesetzt hatte, schrieb Hindemith in nur drei Monaten die komplette Partitur.
Es hat mehr als vierzig Jahre gedauert, bis die erste Einspielung dieser Dreiviertelstundenoper auf Tonträger vorgelegt werden konnte. Wieder einmal hat sich ein Orchester des ...
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Es ist mir noch wie gestern, dass 1958 ein blond gelockter junger Mann unser Haus betrat und mich mit seinem Klavierspiel samt souveränem Vom-Blatt-Lesen verblüffte. Ich hatte mich nach einem Korrepetitor umgesehen, und mein Lehrer Hermann Weißenborn gab Ariberts stets aufmerksamer Mutter Irmgard Reimann den Rat, es doch einmal mit mir zu versuchen. Aber was ich...
Johannisnacht – mit dem nervösen Herzschlag der Pauken und unortbarem Summen zeichnet Philippe Boesmans in seiner Kammeroper «Julie» die subtile Spannung dieser Nacht der Lizenzen und der Triebe. Es darf geträumt werden, und Boesmans gönnt der Köchin Christine unterm Holderbaum ein melodisch fortziehendes Sehnsuchtsmotiv, das noch wiederholt durch die Instrumente...
An einer streng traditionellen «Don Giovanni»-Inszenierung, die allerdings mit höchster Präzision und psychologischer Durchdringung erarbeitet werden muss, könnte man erkennen, wie eine scheinbar fest geordnete Gesellschaft durch Außerkraftsetzen von Ordnung und Moral zerstört wird. Das Ancien Régime war so eine Sozietät, die Mozart im Blick hatte, als er seinen...