Der Kapitalismus frisst seine Kinder
Die Selbstverständlichkeiten zuerst: Natürlich gibt es wieder viel entblößtes Fleisch zu besichtigen in Calixto Bieitos jüngster Regiearbeit. Visuelle Drastik, ein brachialer, unnachgiebig auf kathartische Schockwirkung setzender kritischer Realismus – diese Essenzen des Bieito-Stils prägen auch bei «Wozzeck» im Haus an den Ramblas die Szene. Da macht sich Büchners Doktor an schrundigen Frauenleichen zu schaffen («ein interessantes Präparat»).
Da lüpft die Marie Angela Denokes in der Wirtshausszene kurz das Shirt, um dem als Gary-Glitter-Klon posierenden Tambourmajor zu gefallen. Und kurz vor dem finalen «Ringel, Ringel, Rosenkranz» der von Gott und der Welt verlassenen Kinder schreitet, während das Orchester den mahlernden Fatalismus der d-moll-Verwandlungsmusik intoniert, langsam ein unbekleideter Bewegungschor aus der gleißend blendenden Tiefe des Raumes an die Rampe. Tropfnass vom warmen (sauren?) Regen, der aus einem Sprinklerrohr niedergeht. Die menschliche Kreatur – eine fragile, bedrohte Spezies.
Seine spektakuläre Note gewinnt dieser «Wozzeck» freilich nicht kraft der Nackten und der Toten, die den Weg des labilen Antihelden in den Untergang säumen. Der eigentliche ...
Weiterlesen mit dem digitalen Monats-Abo
Sie sind bereits Abonnent von Opernwelt? Loggen Sie sich hier ein

- Alle Opernwelt-Artikel online lesen
- Zugang zur Opernwelt-App und zum ePaper
- Lesegenuss auf allen Endgeräten
- Zugang zum Onlinearchiv von Opernwelt
Sie können alle Vorteile des Abos
sofort nutzen
Es sind minus siebenundzwanzig Grad in Helsinki, der Schnee fällt schnell und schwer. Lange hält’s keiner draußen aus, schon gar nicht in Abendkleidung. Weil die Schneeberge empfindliches Schuhwerk ruinieren würden, hat die Nationaloper vorgesorgt: Schuhtaschen für jeden! An der Garderobe sitzen, hocken, stehen also rund zwölfhundert Menschen, um die Schuhe zu...
Am Anfang war Astrid Varnay. Ihr verdankte ich den persönlichen Kontakt zu Birgit Nilsson. Ich wollte mit der großen schwedischen Sopranistin über ihr Leben und ihre Kunst reden. Sie hatte sich schon weitgehend aus der Öffentlichkeit zurückgezogen, gab nur noch selten Interviews. Ein lapidares Fax aus Schweden erreichte mich, einen Tag nachdem ihre Freundin Astrid...
Der Vorwurf, dass man in eine Dichtung etwas ‹hineingelegt› habe, wäre ihr stärkstes Lob. Denn nur in jene Dramen, deren Boden knapp unter ihrem Deckel liegt, lässt sich beim besten Willen nichts hineinlegen», schrieb Karl Kraus. Auch auf Mozarts «Idomeneo, rè di Creta» und die beiden Inszenierungen des Werks in Wien und Graz ließe sich dieses Zitat anwenden. Willy...