Auf den zweiten Blick

Ihre Kostüme machen weder schön noch hässlich. Kirchenräume, Wartehallen und Foyers zeigt Anna Viebrock nüchtern, trist, oft ein wenig ranzig. Bewusst alltäglich und realistisch auf den ersten Blick. Bei genauerem Hinsehen entdeckt man, dass sich da Dinge ineinanderschieben, die eigentlich nicht zusammengehören – dass diese Räume viele enthalten; dass sie keine Nachbildungen, sondern (Alp-)Traumwelten sind. Orte und Kleider werden zu Zeichen, spiegeln Beziehungen und Konflikte der Figuren. Zum sechsten Mal wird Viebrock als Bühnenbild­nerin, zum vierten Mal als Kostümbildnerin gewürdigt – für je eine Arbeit mit ihren bevorzugten Regisseuren seit mehr als zwei Dekaden: Marthalers «Viaggio a Reims» in Zürich und Wieler/Morabitos «I puritani» in Stuttgart

Bellinis «Puritaner», Stuttgart 2016: Historische Imagerie

Wieler/Morabito entfesseln auf Anna Viebrocks genial ­verschachtelter Szene – einer ruinösen, jetzt als Versammlungsraum, aber auch als Abstellschuppen genutzten Kirche – eine präzis konnotierte, bis ins Letzte ausgefeilte Bilderflut, die das verschachtelte Ineinander von historischem Rahmen und individuellem Schicksal ironisch bricht und zugleich mit Bedeutung auflädt.

Geschichte – um den dramaturgischen Meisterdenker Morabito zu zitieren – ist hier «historische Imagerie», erfundene, weil spielerisch aufgegriffene und verfremdete Wirklichkeit. Enrichetta und der wie ein Gockel in Samt, Seide und Federhut stolzierende Arturo treten auf, als wären sie den an der Wand gestapelten Gemälden des englischen Hofmalers Anthonis van Dyck entsprungen. Aber nicht weniger irreal – theatralisch eben – wirken die asketisch schmucklosen Puritaner, die Frauen im Schürzenkleid und züchtigen Kopfhäubchen, die Männer mit Gesangbüchern bewaffnet, die sie nicht aus der Hand legen.

(OW 9-10/2016) 

Wagners «Tristan und Isolde», Bayreuth 2005: Schichten abgelegter Zeiten

Natürlich sind Marthaler und Viebrock virtuose Arrangeure des Scheiterns, des ...

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Opernwelt Jahrbuch 2016
Rubrik: Bühne und Kostüme des Jahres, Seite 18
von

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Aufführung des Jahres: Verdis «Macbeth» in Zürich (Teodor Currentzis/Barrie Kosky)

Regisseur des Jahres: Barrie Kosky

Bühnenbildnerin des Jahres: Rebecca Ringst

Dirigent des Jahres: Kirill Petrenko

Sänger des Jahres: Jonas Kaufmann, Anja Harteros

Opernhaus des Jahres: Bayerische Staatsoper München

Ärgernis des Jahres: Die Sanierungsfälle...

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