Wir irren allesamt, nur jeder anders

Christoph Marthaler sucht in seinem Musiktheater «Tiefer Graben 8» nach einem Wohnsitz für die Menschen, Sylvain Cambreling findet ihn bei Beethoven

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Ja klar, denkt man, typisch Marthaler. Da sitzen zwei Herren am Tisch, der jüngere braucht Geld. Ihm fehlen noch 7000 Schillinge. Der ältere will sie ihm sogar schenken, aber nur unter einer Bedingung: drei Kniebeugen, mit vorgestreckten Armen, langsam, tief und vollständig ausgeführt – eine Marthaler-Szene, wie wir sie kennen und lieben. Nur dass sie hier gar nicht von Marthaler stammt. Die literarische Vorlage findet sich, ähnlich einer Regieanweisung, bei Heimito von Doderer, in seinem «Divertimento No 7: Die Posaunen von Jericho».

Da erklärt sich der Mädchenschänder Rambausek bereit, den Eltern Schweigegeld zu zahlen, was der sadistische, als «Herr Doktor» angesprochene Ich-Erzähler weidlich ausnutzt.

Auf der Bühne lachen sich alle krank. Zufällig gibt es bei Beethovens Werken ohne Opuszahl drei Equale für vier Posaunen (WoO 30), kurze Trauermusiken, die dieses groteske Bußgericht hätten kommentieren können. Aber das wäre eines Marthalers unwürdig: viel zu platt (die Posaunen kriegen einen anderen Auftritt). Stattdessen dräut die Pauke, wie zu Beginn von Beethovens Violinkonzert, das schon zuvor mit gesungener Solistenstimme angeklungen war und jetzt aus dem amüsierten ...

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Opernwelt Februar 2025
Rubrik: Im Focus, Seite 4
von Lotte Thaler

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