Doppelte Ekstase
Zu Hilfe, Regnault – Flaubert, steh mir bei! Zu Hilfe Ihr alle, die Ihr Euch verrückt machen lasst von jener rätselhaft lasziven Pubertierenden voller unbewusster Grausamkeit, die sich Salomé nennt – von jener Blume des Bösen, rätselhaft und verführerisch zugleich. Kommt und erklärt mir, wie Salomé zu Maria-Magdalena werden konnte!» So beginnt Camille Saint-Saëns 1881 seine Rezension der Brüsseler Uraufführung von Jules Massenets biblischer Oper «Hérodiade».
Henri Regnault: Sein Gemälde einer wilden Streunerin, deren Attribute Schüssel und Henkersschwert sie als Salomé ausweisen, war im Pariser Salon von 1870 Grund für großes Aufsehen. Gustave Flaubert: Er hatte 1877 in seiner Erzählung «Hérodias» ein Tableau der Intrigen zwischen den zwölf Stämmen Israels und der römischen Besatzungsmacht gezeichnet, in die Hérode und seine Frau Hérodiade unrettbar verwickelt sind. An dessen Ende aber stellte Flaubert in bis dato nicht gekannter, wortmächtiger Weise die erotische Explosion eines wilden Tanzes, der in die Enthauptung Johannes des Täufers mündet.
Wie eine Streunerin tritt auch in Massenets erstem Akt eine mädchenhafte Salomé auf – Lorenzo Fioroni hat ihre Identitätssuche in seiner Düsseldorfer Inszenierung 2023 treffend gezeichnet. Sie reist dem Propheten und Täufer Jean hinterher, der sich ihrer annahm, nachdem die Mutter Hérodiade sie aus Machtgier verlassen hatte, um ein Bündnis mit Hérode einzugehen. Erotische Exstase wandelt sich zu nicht minder heftiger religiöser: In der Peripetie des Werks, wenn am Ende des dritten Akts Jean vom eifersüchtigen Hérode (der bei der Stieftochter Salomé nicht landen kann) verurteilt wird, singt Salomé über die fanatische Massenszene hinweg in leuchtender Klarheit «Man nennt ihn Gott». Damit sind wir bei Nicole Cars Salomé und dem glänzenden Ensemble, das die Deutsche Oper Berlin für eine konzertante Aufführung unter Enrique Mazzolas Leitung aufbieten konnte. Vergleicht man den jetzt vorliegenden Mitschnitt mit den 30 Jahre alten Starproduktionen aus San Francisco (Gergiev) und Toulouse (Plasson), so genügt ein unterscheidendes Wort: Idiomatik. Erstmals sind jetzt alle Rollen nach den stimmlichen und prosodischen Standards der Grand Opéra an der Schwelle zum drame lyrique besetzt. An die Stelle von Plácido Domingos oder Ben Heppners mehr oder weniger globalem Jean mit Latin-Lover- Spitzen tritt der fabelhafte lyrische Tenor Matthew Polenzani mit der Diktion eines native speaker, mit wohldosierten heroischen Höhen und präzise eingesetzter voix mixte, die aber jede Kitschklippe meidet. Ebenso meidet Nicole Car die auf Textstichworte hin abzurufenden standardisierten Rührungsmomente, die einer älteren Generation noch ein tiefer lotendes Textverständnis ersetzen mochten.
Cars in den Höhen glockenheller Sopran setzt da gleich im ersten Akt, vor allem aber im abschließenden Duett mit Jean, Maßstäbe. Alles bleibt präzise wortnah, im flüssigen Dialog. Zu schneidender Schärfe weiß Car ihre schlanke Stimme anzuspitzen, wenn sie im dritten Akt Hérodes Avancen (kernig und leidenschaftlich gesungen vom Ehemann Étienne Dupuis) zurückweist. Aber im letzten Duett mit Jean – und dann vor allem in der Schlussszene mit der grausamen Mutter – kehrt sie bei den absteigenden Skalengängen auf «Laissez-vous émouvoir» zum mädchenhaften Glockenton zurück, den sie bei ihrem Vorwurf an die Rabenmutter, sie verleugnet zu haben, zur Verzweiflung zu steigern weiß. Umso schrecklicher der wilde Oktavsprung-Aufschrei «elle maudit sa mère» der von Schmerzen geplagten Mutter, die mit Clémentine Margaines ihre optimale Verkörperung zwischen Herrschsucht, Bosheit und Gewissensqualen findet: ein idealer Stimmenkontrast am Ende eines Plots, der nicht im rauschhaften Tanz der Salomé, sondern im Selbstmord einer verzweifelten Tochter endet. Die genaue Zeichnung «intimster Regungen der einzelnen Figuren», wie Anselm Gerhard in seinem glänzenden Booklet-Text treffend geschrieben hat, steht am Ende eines gattungsmäßig noch ambivalenten Werks. Dank Mazzolas ebenso subtiler wie großflächig überzeugender Leitung zeigen diese ihre Stärke gegen die lärmenden Grand-Opéra-Szenen, von denen Saint-Saëns zu Recht anmerkte, sie gehörten einer verflossenen Zeit an. Der Chor der Deutschen Oper hat dort jedenfalls bravouröse Auftritte.
MASSENET: HÉRODIADE
Étienne Dupuis (Hérode), Clémentine Margaine (Hérodiade), Nicole Car (Salomé), Matthew Polenzani (Jean), Mirko Mimica (Phanuel), Dean Murphy (Vitellius) u. a.; Chor und Orchester der Deutschen Oper Berlin, Enrique Mazzola
Naxos 8.660540-41 (2 CDs); AD: 2024
VERLOSUNG Am 13. Februar um 10 Uhr verschenken wir 3 Exemplare dieser CD-Box an die ersten Anrufer: 030/25 44 95 55

Opernwelt Februar 2025
Rubrik: Medien, Seite 23
von Klaus Heinrich Kohrs
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