Unsterblicher Schani
Die einen glauben, Gustav Mahler sei der Autor der berühmten Zeilen: «Wenn die Welt einmal untergehen sollte, ziehe ich nach Wien, denn dort passiert alles 50 Jahre später.» Andere Quellen vermuten Karl Kraus hinter dem Bonmot, das vielleicht noch immer stimmt, vielleicht aber auch längst überholt ist.
Denn wie ist es zu erklären, dass allen (Welt-)Krisen und innerpolitischen Problemen zum Trotz in Wien bei der Kultur unbeirrt weiter geklotzt und nicht gekleckert wird? Ist das große Sparen hier noch nicht angekommen? Oder ist die Einsicht, dass eine Stadt nur mit lebendiger Kultur und funktionierender Infrastruktur attraktiv ist, im Gegensatz zu anderen Metropolen nach wie vor so unvermindert groß?
Wie auch immer: In Wien kann man gerade beobachten, dass eine attraktive Stadt potente Investoren magnetisch anzieht. Da ist zum Beispiel das nagelneue Opernhaus NEST (Neue Staatsoper im Künstlerhaus) gegenüber dem Musikverein, eine «Tochter» der Staatsoper für Kinder- und Jugendtheater sowie Experimentelles: Der Strabag-Milliardär Hans Peter Haselsteiner steuerte mit seiner Stiftung 20 Millionen Euro für das Projekt bei, die öffentliche Hand übernahm fünf Millionen. Vollständig aus privaten Mitteln finanziert ist ein neues Ausstellungserlebnis am Naschmarkt: «Johann Strauss – New Dimensions», lautet der Titel des immersiv konzipierten Spektakels, das (privat finanzierte) Budget wird mit 2,2 Millionen Euro beziffert. Und bereits seit einem Jahr ist das «House of Strauss» im Casino Zögernitz zu besichtigen, eine teils kommerzielle, teils geförderte Einrichtung, zu der auch ein gehobenes Restaurant sowie ein Museums-Shop gehören.
Satte 22 Millionen Euro ist Wien die Feier des 200. Geburtstags von Johann Strauss (Sohn) wert, der sich neuesten Forschungsergebnissen zufolge korrekt eben doch nicht mit «ß», sondern, wie sein berühmter Namensvetter Richard, mit «ss» schreibt. Kein Geringerer als Roland Geyer, der das Theater an der Wien mit bahnbrechenden Programmen quasi neu erfand, hat die künstlerische Leitung des Jubiläumsjahrs übernommen, «Wien in Strauss und Braus 2025», lautet der fetzige Titel des Projekts, das 65 Produktionen an 69 Orten in Wien präsentiert und auf drei dramaturgischen Programmsäulen ruht: «Pur» lautet das Label für Veranstaltungen mit originaler Strauss-Musik, «Mix» mixt aus Straussiana, seine Kunst und das Leben betreffend, etwas Neues, während das Label «Off» die unsterbliche Musik an ungewohnte Orte bringen will. Kurator Geyer ist daran gelegen, gegen die herkömmlichen Klischees über den Walzerkönig anzuarbeiten, weshalb er die zeitgenössische und spartenübergreifende Szene bewusst mit einbindet. In Wien ist Strauss ja ohnehin seit jeher omnipräsent, nicht zuletzt in Gestalt der vergoldeten Stehgeiger-Plastik im Stadtpark, auf den Spielplänen und bei den zahllosen Bällen der Wintersaison.
Ein wesentlicher Anteil an der (die Klischees relativierenden) Dramaturgie des Strauss-Jahres gebührt jenen drei Ausstellungen, die das Leben des geradezu hysterisch angehimmelten «Schani», seine Zeitumstände und die Familiengeschichte beleuchten. Im Theatermuseum im Palais Lobkowitz (in dem unter anderem Beethovens «Eroica» zur Uraufführung kam) geht es eher klassischakademisch zu: Vitrinen zeigen Strauss-Devotionalien, wie etwa seine wunderzierlichen weißen Glacé-Handschuhe. Sehenswert auch das opulente Reisegepäck des ersten Popstars der Musikgeschichte, als es die Trennung von U- und E-Musik noch nicht gab und Kollegen vom ernsten Fach wie Brahms und Wagner den unermüdlichen Komponisten, Stehgeiger und Dirigenten (der vor dem Spiegel übte, um seine Wirkung zu überprüfen!) ausdrücklich verehrten.
Im Theatermuseum kann man auch die originalen Texte der «Fledermaus» nachlesen, die weiland ob ihrer Schlüpfrigkeit der Zensur zum Opfer fielen und entschärft werden mussten. Außerdem wird die gesamte Strauss-Dynastie präsentiert, ihr systematischer Aufbau durch Johann Strauss (Vater), die maßgebliche Unterstützung durch die weniger bekannten Brüder und die Vereinnahmung des «Phänomens» Strauss durch die Nazis nebst systematischer Vertuschung aller jüdischen Anteile der Familie durch die von Goebbels angeordnete Fälschung des Trauungsbuchs von St. Stephan, um Johann Strauss vom «Makel» jüdischer Vorfahren zu befreien.
Eindrücklich dokumentiert die Schau auch die gar nicht so gemütlichen Zeitumstände, die den Suchtcharakter jener rauschhaften Musik zwischen betörender Süße, Drehtaumel, Frivolität und melancholischer Weltflucht eigentlich erst erklären: Das gigantische Ringstraßen-Projekt, für das die Stadtbefestigungen von Hand durch prekäre, in äußerstem Elend lebende Tagelöhner (denen Strauss seine «Demolirer-Polka» widmete) geschleift werden mussten. Ferner eine Cholera-Epidemie, der dramatische Börsencrash 1874 sowie verheerende Donau-Überschwemmungen. Strauss’ Leben fiel in eine Zeit größter Umbrüche, was auch das vor einem Jahr eröffnete Museum im Casino Zögernitz in Döbling sehr anschaulich zeigt.
Die süffige Präsentation dort ist multimedial aufbereitet, niedrigschwellig, aber nicht anbiedernd und äußerst unterhaltsam. So kann man vom eigenen Pulsschlag ausgehend, den nach Handauflegen ein Touchscreen misst, die jeweils passende Strauss-Musik auswählen. Präsentiert werden zudem Fundstücke, Notenbeispiele und immer wieder viel Musik. Zudem betritt man mit dem Casino den letzten erhaltenen authentischen Spielort der gesamten Musikerdynastie. Der akustisch herausragende Konzertsaal wurde lange Zeit nur noch für Aufnahmen genutzt, jetzt gibt es dort wieder Live-Konzerte und multimediale Ereignisse für die Museumsbesucher, ein gehobenes Lokal sorgt zusätzlich für neues Leben in dem eher ruhigen Stadtteil Döbling.
Ganz ohne historische Objekte kommt das kommerziellste Ausstellungsprojekt am Nasch -markt aus: «Strauss – New Dimensions» will immersiv wie interaktiv sein und versteht sich als «Art & Tech»-Ausstellung, die sich Strauss in sieben Akten nähert. Auf einer Fläche von 900 Quadratmetern kommen ein bewegungssensibles Kopfhörersystem zum Einsatz, das beim Durchschlendern die passenden Musik- und Informationshäppchen bietet, sowie eine Komponiermaschine, die zur Komposition des jeweils eigenen Walzers ertüchtigen soll. Sehenswert sind alle drei Ausstellungen.

Opernwelt Februar 2025
Rubrik: Magazin, Seite 64
von Regine Müller
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