Schuld und Sühne
Das Wort prangt in großen Leuchtbuchstaben auf der Rückwand des zweistöckigen, aus farbigen Leuchtkästen gefügten Kubus: «Innocence». Für die deutsche Premiere der gleichnamigen Oper von Kaija Saariaho hat Bühnenbildnerin Ines Nadler diesen Würfel auf die Bühne des Gelsenkirchener Musiktheaters im Revier platziert. Zehn Schülerinnen und Schüler sowie ein Lehrer sind vor Jahren bei einem Massaker an einer internationalen Schule ums Leben gekommen. Sein jugendliches Alter bewahrte den Täter vor der Haft; aus der Psychiatrie entlassen, lebt er inzwischen unter einem neuen Namen.
Sein Bruder heiratet eine Rumänin. Die junge, im Waisenhaus aufgewachsene Frau sehnt sich nach Familienglück. Doch am Hochzeitstag zerbricht die heile Welt. Für die Feier springt Tereza, deren Tochter Markéta bei dem Attentat erschossen wurde, als Aushilfskellnerin ein und wird zum Auslöser eines an den antiken Ödipus-Mythos erinnernden Erkenntnisprozesses, an dem auch die fünf traumatisierten Überlebenden beteiligt sind. Am Ende verschwimmt die Grenze zwischen Schuld und Unschuld. Die Lehrerin und der Pfarrer haben die Anzeichen nicht ernst genommen. Der Vater gab seinem Sohn Schießunterricht. Der Bruder und die Schulfreundin Iris waren Komplizen und sind erst im letzten Moment abgesprungen. Die Mitschüler haben ihn gemobbt und gedemütigt. Auch Unschuld verjährt nicht.
Schon das mehrsprachige Libretto der finnischen Schriftstellerin Sofi Oksanen widersteht dem Versuch, aus dem Stoff einen Psychothriller zu pressen. Raum, Zeit und Handlung lösen sich vom linearen Geschehen. Das Massaker selbst wird nicht gezeigt, aber das Davor und Danach sind im Schmerz der Betroffenen wie in den krampfhaften Verdrängungsversuchen der Mitschuldigen stets präsent. Die Toten mischen sich ins Spiel, die Vergangenheit holt die Teilnehmer der Hochzeit ein, bis der Bräutigam – der Bruder des Mörders – schließlich Gericht mit seinem eigenen Ich abhält. Diese subtile, die Bewusstseinsebenen auflösende Simultaneität bestimmt auch die Musik. Die Hochzeitsgesellschaft besetzt Saariaho mit normalen Gesangsstimmen. Die Figuren aus dem Reich der Erinnerung sind teils Schauspielerinnen und Schauspieler, ihre Partien in einem die Tonhöhe nur andeutenden Sprechgesang notiert. Markéta wird von einer Folk-Sängerin verkörpert und hebt sich mit ihrem leichtfüßigen Ton von den übrigen Solistinnen und Solisten ab (in Gelsenkirchen ist es die finno-ugrische Singer-Songwriterin Erika Hammarberg). Was wir hören, ist eine verwirrende Stimmenvielfalt; die 2023 verstorbene Komponistin nutzte sie allerdings weniger zur psychologischen als vielmehr zur gestischen Individualisierung der Figuren.
Mithilfe ihres handwerklich gekonnten, gemäßigt modernen, wenn auch atmosphärisch genau ausgehörten Orchestersatzes formt sie die insgesamt 26 pausenlos ineinander übergehenden Szenen zu individuellen Nummern – am schärfsten in der elften, das Attentat schildernden «It»(«Es»)-Szene, in der der ansonsten wortlos die Geister der Vergangenheit beschwörende, im Hintergrund kaum sichtbare Chor mit den Worten «When it happen’d» einsetzt und die Namen der dann monologisch auftretenden Toten aufruft. Da auf der Szene fast nichts geschieht, das Geschehen in der Art eines dokumentarischen Lehrstücks nur angedeutet wird, ist es allein die Musik mit ihren meist abgründig-unterdrückten Farben und Klängen, von der der beklemmende, ja, geradezu klaustrophobische Sog des Stücks ausgeht.
Elisabeth Stöppler verstärkt diese unheimliche Wirkung, weil sie in ihrer minutiösen Personenführung auf jeden Naturalismus der Szene wie des Spiels verzichtet. Von der im Libretto beschriebenen Hochzeitstafel und ihrem Verlauf ist nichts zu sehen. Und anders als bei der Uraufführung 2021 in Aix-en-Provence zeigt Ines Nadlers Bühnenbild auch kein Horrorhaus. Der zweigeschossige, farbig leuchtende gläserne Kubus lässt zwar noch die abstrahierende Form eines Hauses, aber keine Zimmer mehr erkennen, und auch die strikte Trennung der Handlungsebenen – oben die Hochzeit, unten die Welt der Toten – ist aufgehoben. Erst wenn die Szene zum Tribunal über den Bruder des Attentäters wird, fährt der Kubus nach hinten, und unmittelbar an der Rampe werden die kleinen Schultische in eine Reihe gestellt, die wie eine Mauer zwischen Bühne und Zuschauerraum wirkt. Die knisternde Spannung entsteht allein aufgrund der unerbittlich sich herausschälenden Wahrheit, dass es in diesem Gewaltzusammenhang keine Unschuld gibt. Schuldig sind wir alle. Das ist die politische, die humane Botschaft dieses Stücks, die an einen Satz aus Dostojewskis Roman «Die Brüder Karamasow» erinnert: «Wenn alle wüssten, dass alle an allem schuld sind, das wäre das Paradies.»
Die musikalische Einstudierung unter der Leitung von Saariahos Landsmann Valtteri Rauhalammi stand der gleichermaßen analytisch unbestechlichen wie spielerisch individuell durchgeformten Inszenierung in nichts nach. Die Neue Philharmonie Westfalen und das Chorwerk Ruhr spielten und sangen mit nachgerade mirakulöser Präzision. Unter den Solisten ragte Khanyiso Gwenxane als obsessiv agierender und singender Bräutigam hervor. Ihm ebenbürtig Hanna Dóra Sturladóttir als verhärmte, ganz in Schwarz gekleidete Kellnerin, die den Verlust ihrer Tochter nicht überwinden kann. Rollendeckend Katherine Allen als arrogant hochnäsige Schwiegermutter, Benedict Nelson als ihr im Verlauf des Spiels immer fassungslos-betretener wirkender Ehemann, während Margot Genet den Sturz der Braut in die Desillusionierung glaubhaft macht. Den Darstellerinnen und Darstellern der Toten, allen voran der gegen Schluss immer stärker sich ins Zentrum spielenden Iris (Elisa Marcelle Berrod), gelingt es durchweg, ihrer Präsenz in der Realität einen irritierenden, ja verstörenden Anstrich zu geben. Wenn am Ende die Musik verstummt und das Licht erlischt, herrscht beklommenes Schweigen, das sich dann in einem geradezu tumultuarischen Jubel entlädt. Ein großer Abend, ein beklemmendes Stück, eine überragende Aufführung machen das Glück im Unglück vollkommen. ___
Saariaho: Innocence
GELSENKIRCHEN | MUSIKTHEATER IM REVIER
Deutsche Erstaufführung: 28. September 2024
Musikalische Leitung: Valtteri Rauhalammi
Inszenierung: Elisabeth Stöppler
Bühne: Ines Nadler
Kostüme: Frank Lichtenberg
Licht: Patrick Fuchs
Chor: Sebastian Breuing
Solisten: Hanna Dóra Sturludóttir (Die Kellnerin), Margot Genet (Die Braut), Katherine Allen (Die Schwiegermutter), Khanyiso Gwenxane (Der Bräutigam), Benedict Nelson (Der Schwiegervater), Philipp Kranjc (Der Priester), Anke Sieloff (Die Lehrerin), Erika Hammarberg (Markéta), Bele Kumberger (Lilly), Elisa Marcelle Berrod (Iris), Sebastian Schiller (Anton), Pablo Antonio Alvarado Mejia (Jerónimo), Danai Simantiri (Alexia)
www.musiktheater-im-revier.de
Opernwelt November 2024
Rubrik: Im Focus, Seite 14
von Uwe Schweikert
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