Sternenstaub, so schön
Die Frage ist nicht neu, aber von zeitloser Dringlichkeit: «Wer sind wir, was ist unser Zweck, und was bleibt von uns nach unserem Tod?» Huw Montague Rendall zögert nicht lange und liefert im Booklet seines Albums mit dem schönen Titel «Contemplation» gleich die demütige Antwort mit: «Wir sind nichts als Sternenstaub. Wesen kosmischen Ursprungs, schwebend in der Welt des Universums.
» Um aber diese «flüchtige, vergängliche Existenz» mit irgendeinem Sinn zu füllen, behilft sich der britische Bariton mit jenen tönenden Meisterwerken, die auch für seine Stimme hinreichend Platz zur subjektiven Entäußerung geben. Musik, schreibt Rendall, sei ihm, dem Interpreten, eine «unschätzbare Gefährtin», sie biete ihm «tiefe Einsichten in die labyrinthische Vielschichtigkeit der menschlichen Psyche».
Hehre Worte, einem hohen Anspruch entwachsen. Doch gleich die ersten Töne der Sein-oder-Nichtsein-Introspektion des Titelhelden aus Ambroise Thomas’ «Hamlet» beglaubigen ihn. Rendall sucht nicht nach vokaler Überwältigung, er sucht nach dem Sinn der Worte, die diese Überwältigung erst auszulösen vermögen. Sanft-samtig und luzide begleitet vom Opéra Orchestre Normandie Rouen unter der Leitung von Ben Glassberg, tastet er sich durch die Takte, spürt er jedem einzelnen Wort nach und wird so schließlich zu der Figur, die er interpretiert – zum sinnierenden Menschen, der seine Stimme nutzt, um den Sternenstaub zumindest für Augenblicke abzuschütteln. Von Hamlet ist der Weg nicht weit zu Fritz’ und dessen Traumbild «Mein Sehnen, mein Wähnen» aus Korngolds «Toter Stadt». Auch in dieser schwärmerisch-introvertierten Tanzliedweise bekundet der Sänger ein Stil- und Formbewusstsein, das seine Wiedergabe außerordentlich erscheinen lässt: Fast scheu klingt Rendalls Bestreben, das «blühende Glück» zu finden, und wenn er dann die Verse «Rausch und Not, Wahn und Glück, / ach, das ist Gauklers Geschick» intoniert, gewinnt man eine Vorstellung davon, wie zerbrechlich jedes Glück sein kann. Schier ewig und viel länger als vorgeschrieben verhallt schließlich das letzte Wort «zurück», das der Komponist mit der entsprechenden Anweisung perdendosi versah.
Rendall, das zeigt sich auch in den weiteren Stücken des Albums, ist ein enorm reflektierter Künstler, der seinen Gesang nicht zur Darbietung technischer oder gar virtuoser Möglichkeiten nutzt, sondern dazu, den Wesenskern der Musik zu erkunden, die vor ihm auf dem Pult liegt. Deutlich wird dies auch in der E-Dur-Ballade des Mercutio aus Gounods «Roméo und Juliette», die der Brite ganz ohne Grandezza und ohne amüsiert-frechen Unterton singt; vielmehr gelenkig, quirlig, augenzwinkernd, mit delikater Textbehandlung. Das französische Idiom scheint ihm, wie schon beim «Hamlet» zu hören, vertraut. Da überrascht es kaum noch, dass er sich bei Mahler sicher fühlt. Dessen «Lieder eines fahrenden Gesellen» atmen einen linden, lyrischen Duft; schon hier scheint der Sänger der Welt abhandengekommen, schon hier hat er sich in sein Gehäuse zurückgezogen und horcht noch jeder scheinbar unbedeutenden Silbe hinterher: Rendalls superzarte piano-pianissimo-Kultur ist wahrlich erlesen, auch seine agogischen «Manöver» korrelieren jederzeit zu dem, was Wort und Text ausdrücken. Und selbst dem vorgeblich «munteren» Ausschreiten «übers Feld» wohnt ein leiser Zweifel inne, ob nicht auch dieser Weg in die Irre führen könnte. Gewissheit darüber erlangt der Protagonist im dritten der «Rückert-Lieder». Huw Montague Rendall singt es als eine Art Chanson triste, mit bebend-schwebender Stimme. Doch nicht eine Note klingt bei ihm nach Larmoyanz; dieser Form der Resignation liegt weit eher die Erkenntnis zugrunde, dass im «Weltgetümmel» kein Platz mehr für das unrettbar verlorene Individuum ist, und dass nur die Kontemplation einen möglichen Fluchtpunkt bildet.
Billy Budd, der traurige Titelheld aus Brittens gleichnamiger Oper, weiß von solchen Optionen, er ist ein Verwandter Mahlers. Und auch ihm verleiht dieser kluge Interpret mit seiner sonoren Bruststimme und einer lichten, hier und da auf dem Drahtseil tänzelnden Kopfstimme zartgezeichnete Kontur. Ihm dabei zuzuhören, ist ein großer Genuss. Und wenn man dem Gesang der Piccoloflöte, die Billys Mondscheinlied begleitet, lauscht, überkommt einen für Sekunden doch das Gefühl, dass hinter der Schwermut das Idyll wartet.
HUW MONTAGUE RENDALL: CONTEMPLATION
Huw Montague Rendall (Bariton), Opéra Orchestre Normandie Rouen, Ben Glassberg Erato 5021732363787 (CD); AD: 2023
VERLOSUNG Am 14. November um 10 Uhr verschenken wir 5 Exemplare dieser CD an die ersten Anrufer: 030/25 44 95 55
Opernwelt November 2024
Rubrik: CD, DVD, Buch, Seite 33
von Jürgen Otten
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