Plädoyer für eine ästhetische Kontinuität
Es ist nur eine winzige Unachtsamkeit, scheint aber im Fall von Kurt Weill nachgerade symbolischen Charakter zu besitzen: Sein Grabstein auf dem konfessionsneutralen Friedhof Mount Repose in Rockland County, Bundesstaat New York, ziert der Choral «Bird of Passage» aus Weills letztem Bühnenwerk «Lost in the Stars» von 1949, doch eben da entdeckt man den (kaum sichtbaren) Fehler: Der Komponist, der ein genuin «deutscher» irgendwann nicht mehr sein wollte, hatte über dem Wort «earth» ein gebundenes «As» notiert, in Stein gemeißelt erscheint aber der Ton «G».
Man könnte dies als quantité negligéable abtun; betrachtet man jedoch Leben und Werk Weills und sieht beides im Licht einer posthumen Rezeptionsästhetik sowie der damit verbundenen Erwartungshorizonte, gewinnt der Fauxpas an Bedeutung.
Für viele ist Weill ein Komponist, der aus zwei Identitäten besteht, die kaum miteinander korrelieren: hier der Schöpfer der «Dreigroschenoper», des «Mahagonny»-Projekts und all jener Werke für das Musiktheater, die vor 1933 entstanden; dort der «amerikanische» Weill, dessen innovative Kräfte am Broadway erlahmten und der nie wieder zu früherer «Größe» zurückfand. Zu «danken» ist dieses ...
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Opernwelt November 2024
Rubrik: CD, DVD, Buch, Seite 39
von Jürgen Otten
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