Drama in Zeitlupe
Vielleicht hat es Yniold schon mal bis zum Remis geschafft. Und ob seine Armee aktuell auf Sieg steht: Wir werden es nie erfahren nach der wütenden Handbewegung, mit der Papa Golaud alle Schachfiguren vom Tisch fegt. Es ist erstaunlich, wie der kleine Thronfolger in dieser kaputten Familie alles bewältigt – auch wenn er sich ab und zu traumatisiert unter den Tisch flüchtet.
Der eigentliche Konflikt dieses Stücks spielt sich ja nicht innerhalb des Liebesdreiecks Mélisande, Golaud und Pelléas ab, sondern zwischen den Generationen, und das erfährt man in dieser Premiere der Münchner Opernfestspiele überdeutlich.
Vom resigniert dahinschlurfenden Großvater Arkel über den siechen, ans Bett gefesselten Vater über die Stiefbrüder Golaud und Pelléas bis zu Yniold sieht man sie alle auf der Bühne des Prinzregententheaters, diese dem Untergang geweihten Männer. Doch was man nicht sieht: Natur. «Pelléas et Mélisande» ist bei Jetske Mijnssen kein raunendes Märchen, wo einsame Frauen im Wald aufgegriffen werden oder sich das Liebespaar in einer feuchten Grotte trifft. Die Regisseurin lässt mit Ausstatter Ben Baur alles in karg möblierten Räumen spielen. Eine schmale Fläche mit erlesenem Parkett, einem Tisch, schlichten Biedermeier-Stühlen, davor ein längliches Wasserbassin, und hinter allem gähnt das Schwarz.
Das Schloss Allemonde ist eine Gründerzeitvilla, Claude Debussys einzige Oper erscheint in der Zeit der vorletzten Jahrhundertwende, spielt in München also in der Entstehungszeit des Werkes. Und dennoch ist die Aufführung nicht historisierend oder nur ein Kostümfest. Ein leuchtender Bilderrahmen sorgt für eine Brechung, für eine Distanzierung. Seitenlicht beschattet nicht nur die Gesichter, sondern auch alles andere. Und im letzten Bild, wenn das Wasserbassin vervielfacht ist, alle durchs Nass patschen und der eigentlich tote Pelléas der sterbenden Mélisande ihr Neugeborenes bringt, driftet der Abend ins Surreale.
Die Andeutungen, von denen es unendlich viele gibt in dieser Aufführung, sind trotzdem kein verrätselter Symbolismus. So fein und subtil Jetske Mijnssen arbeitet, so glasklar rollt sie die Geschichte als dreieinhalbstündigen Zeitlupenunfall einer Familie auf. Mit kleinen, absichtsvoll-absichtslosen Gesten und Blicken, mit einem überlegenen Gefühl für szenische Balance und richtige Dosierung. Pelléas ist hier Maler und damit aus Sippensicht auf die schiefe Bahn geraten. Als er Mélisande porträtiert, werden wir Zeugen einer erotischen Annäherung (und Inbesitznahme) der indirekten Art. Und als sich Arkel später der Schönen nähert, gerät das nicht zum offen ausgespielten #MeToo-Moment. Ein sanftes, einladendes Klopfen auf den Platz auf der Couch neben ihm reicht, den Kuss holt er sich später ab. Pelléas, so wie ihn Ben Bliss mit hellem, schmalem, flexiblem Tenor singt und als smarten Rebellen spielt, hat sich einigermaßen arrangiert mit dieser Familie. Wen die Situation allerdings zum emotionalen GAU treibt mit tödlichen Folgen, das ist der auf Tradition pochende Golaud. Christian Gerhaher gibt ihn als eine Art Wozzeck aus dem Großbürgertum. Ein Mann von latenter Aggressivität, in dem der Jähzorn gärt bis hin zur Gefahr eines Amoklaufs. Einen rauen, harten Ton hat sich Gerhaher dafür zugelegt, 2012 war er in Frankfurt noch Pelléas. Nur einmal kommt dieser Golaud ins Flehen – als er Mélisande um Verzeihung bittet. Man fühlt sich erinnert an Almavivas «Contessa, perdono», doch hier ist es ein falsches Zärteln. Ganz abgesehen von diesem bestechenden Charakterporträt: Debussy (übrigens auch Verdi) tut Gerhaher gut. Seine Differenzierungskunst driftet abseits des deutschen Fachs nicht ins Puzzeln. Debussys knapp formulierte, hochökonomische Rhetorik, wo Rezitativisches das Ariose nur streift, wo Deklamation sich nur selten zur Vokallinie verdichtet, all das wird von Gerhaher mit feinem Besteck zu Klang – und in den wie besessenen Ausbrüchen zum Lear-Moment.
Umso stärker der Kontrast, umso unüberbrückbarer die Kluft zu Mélisande. Gerade, weil sie in dieser Produktion Sabine Devieilhe anvertraut wurde. Die stimmliche Süße, das behutsam modellierte Vokalrelief, die klug platzierten Akzente, Farbveränderungen und Dynamikwechsel, der in jeder Lage druckfreie Gesang, die Clarté in der Textbehandlung, all das macht sie zu einer singulären Rollenvertreterin. Als diese Mélisande ihr a-cappella-Lied anstimmt, hält das Publikum den Atem an. Und dass es sich nicht um eine zart besaitete Frau handelt, sieht man bald. Ihren Ehering verliert sie nicht. Sie sucht sich den passenden Ort und den passenden Moment, an dem sie ihn wegwerfen kann. Auch sonst fährt die Bayerische Staatsoper Hochkarätiges auf. Franz-Josef Selig (Arkel) und Sophie Koch (Geneviève) machen ohne jegliche Äußerlichkeit das Gebrochene des alten Paares plausibel. Und Felix Hofbauer vom Tölzer Knabenchor verblüfft in seiner unerschrockenen Präsenz: Sein Yniold bewegt sich zwischen Verletzung und Selbstbewusstsein und damit auf Augenhöhe zur übrigen Besetzung.
Wer auf andere Weise überrascht, ist der Mann im Graben. Ursprünglich sollte Mirga Gražinytė-Tyla dirigieren, sie sagte vor wenigen Monaten «aus persönlichen Gründen» ab. Staatsopern-Debütant Hannu Lintu sucht mit Macht die Anti-Klischee-Aktion. Vom Klangmurmeln, das die Kollegen bei Debussy erzeugen, vom Musizieren hinter vorgehaltener Hand hält er nicht gar so viel. Fragiles, Hauchfeines gibt es bei ihm schon auch. Doch dieser Debussy klingt, als habe man einen Gazevorhang weggezogen. Konkret, haptisch, diesseitig. Und manchmal ungewöhnlich farbsatt bis drastisch. Auf eine aparte Weise passt das sogar zur Regie. Lintu macht mit dem Bayerischen Staatsorchester hörbar, wie offen Debussy das Innenleben seiner Figuren ausspielt. Und dass es in der Premiere auch ein paar Straucheleinheiten gibt, fällt dabei gar nicht so ins Gewicht.
Ein Straßenfeger und Publikumsliebling wird «Pelléas et Mélisande» nie, das spürt man beim zwar heftigen, aber kurzen Applaus. Dabei ist die letzte Produktion (auch zu den Festspielen und im Prinzregententheater) gar nicht so lange her, damals, 2015, in der Regie von Christiane Pohle und mit Constantinos Carydis am Pult. Die Neuauflage nun ist der späte Höhepunkt dieser Spielzeit. Und, nach dem Hickhack um die Vertragsverlängerung von Intendant Serge Dorny, irgendwie versöhnlich.
Debussy: Pelléas et Mélisande
MÜNCHEN | BAYERISCHE STAATSOPER
Premiere: 9. Juli 2024
Musikalische Leitung: Hannu Lintu
Inszenierung: Jetske Mijnssen
Bühne und Kostüme: Ben Baur
Licht: Bernd Purkrabek
Chor: Franz Obermair
Dramaturgie: Ariane Bliss
Solisten: Franz-Josef Selig (Arkel), Sophie Koch (Geneviève), Ben Bliss (Pelléas), Christian Gerhaher (Golaud), Sabine Devieilhe (Mélisande), Felix Hofbauer (Yniold) u. a.
Opernwelt September/Oktober 2024
Rubrik: Im Focus, Seite 39
von Markus Thiel
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