Noblesse oblige!
Der Tod, so hat es der französische Philosoph Vladimir Jankélévitch in seiner fulminanten Studie «La Mort» postuliert, sei etwas Absurdes – etwas, das weit hinausreicht über unser Denken, unsere Weltwahrnehmung und über die Möglichkeit, das Unfassliche zu ertasten. Nicht so für Mérimées Carmen. Für sie ist der Tod eine Herausforderung; ein Gegner, dem eine Femme fatale ihrer Façon mit Verachtung ins Auge schaut.
George Bizet wusste um diese widerspenstige Grundhaltung, und so verwundert es kaum, wenn er in Carmens Solonummern und ebenso im Terzett des dritten Akts über das in allen Fällen vorherrschende Moll-Tongeschlecht «hinausgeht» und die genuin trist-trübe Atmosphäre maliziös grinsend konterkariert.
Wenn nun Aigul Akhmetshina Habanera, Seguidilla und – gemeinsam mit Elizabeth Boudreault (Frasquita) und Kézia Bienek (Mercédès) – das Allegretto con moto anstimmt, kann man diesen Widerspruchsgeist in jedem Ton hören. Da spielt jemand mit dem Feuer, absichtsvoll, ohne Einschränkung und mit grabesdunklem Timbre; vor allem in den chromatisch abwärts gleitenden Linien bekundet die russische Mezzosopranistin, wohl eine der größten Begabungen unserer Zeit, eine Lebenserfahrung, die sie als die junge Sängerin, die sie ist, eigentlich gar nicht haben dürfte. Akhmetshina aber hat sie, das war schon bei ihrem bemerkenswert reifen und ergreifenden Elisabetta-Porträt in der Amsterdamer «Maria Stuarda» evident; ihr verführerischer, guttural getönter Gesang entführt uns in die Tiefen des Seins. Auch die Liebe scheint diese Carmen besser zu kennen als jede andere. Allein wenn sie das Wort «L’amour» singt, fühlt man sich von der Transzendenz des Begriffs umklammert. Auch in der «Seguidilla», dem zweiten Paradestück aus «Carmen», klingt ihr glutvoll timbrierter Mezzosopran im gleichen Augenblick geschmeidig und ahnungsvoll bewölkt, von Lebenserfahrung durchtränkt, so als habe sie das Schicksal der Protagonistin schon zigmal selbst erlebt. Wie klug sie diese Partie interpretiert, zeigt der nuancierte Farbwechsel bei der Rückung von b-Moll zu H-Dur; und so glänzend Freddi di Tommaso hier als Don José erscheint – es ist kristallklar, wer in dieser Beziehung dominiert und das Drama der Existenz durchlebt.
Von Bizets Carmen ist der Weg, so gesehen, nicht gar so weit zu Massenets Charlotte. Und auch in deren Briefszene berührt die Innigkeit, das Seelenvolle in Akhmetshinas Stimme, das weit hinausreicht über vokale Virtuosität. Herausragend ihre Phrasierungskunst, betörend die Nuancen zwischen piano und pianissimo. Wir werden Zeuge einer irisierenden Introspektion mit momentweiser Aufwallung; jeder Takt ist mit Emotion aufgeladen, ohne aber ins Sentimentale abzugleiten. Selbiges gilt für Charlottes«Va! laisse couler mes larmes», wo man zwar die Tränen buchstäblich fließen sieht, über allem aber eine Stimme thront, mit der man ein ganzes Opernhaus heizen könnte. Akhmetshina profitiert nicht nur hier von kongenialen Partnern. Lyons Musikchef Daniele Rustioni beweist mit dieser Studioaufnahme erneut, wie sorgfältig, sensibel und sublim er als Orchesterbegleiter ist. Samten die Tongebung, zurückgenommen die Dynamik, rhetorisch bezwingend ist die Diktion des Royal Philharmonic Orchestra; nie aber zu defensiv, sondern stets von Noblesse und instrumentaler Flink -füßigkeit. Diese waltet auch nach dem «Grenzübertritt» ins italienische Fach, bei Bellini und Rossini. Was sich ändert, ist der solistische Zugriff. Man merkt Akhmetshina nicht nur ihr dunkle Grundierung an, man hört zudem, dass sie dem Belcanto längst entwachsen ist. Schon in den ausgewählten Arien aus «I Capuleti» ist die Tongebung verschattet, wohnt dem akzentuierten Tanz über dem Vulkan (in «La tremenda ultrice spada») ein herbes Feuer inne und klingt selbst das zarte Begehren in «Tu sola, o mia Giulietta» eher wie das verzweifelte Sehnen einer verwundeten Seele. Und spätestens bei den Arien aus «La cenerentola» wird evident, dass hinter der Leichtigkeit der Arabesken ein spätromantischer Gestus wohnt. Dass Aigul Akhmetshina aber auch anders, leichtfertiger, federnder, unbeschwerter sein (und singen) kann – das beweist sie in der E-Dur-Kavatine «Una voce poco fa». Angesichts solcher, selbst in Höhenlagen virtuoser Leggiero-Kunst hält selbst der Tod für einige Augenblicke den Atem an.
AIGUL
Aigul Akhmetshina (Mezzosopran); Royal Philharmonic Orchestra, Daniele Rustioni
Decca 487 0262 (CD); AD: 2023/24
VERLOSUNG Am 12. September um 10 Uhr verschenken wir 5 Exemplare dieser CD-Box an die ersten Anrufer: 030/25 44 95 55
Opernwelt September/Oktober 2024
Rubrik: CD, DVD, Buch, Seite 47
von Jürgen Otten
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