Kopfgeburten
Für Giuseppe Verdi war Musiktheater Gesangstheater – und ist «der Angelpunkt einer Oper die Stimme», wie Uwe Schweikert es in einem seiner brillanten Essays formuliert hat. Daher reicht Enrico Carusos Antwort auf die Frage, was es für eine erfolgreiche Aufführung des «Trovatore» brauche, über den Charakter eines Bonmots hinaus: «Lediglich die vier besten Sänger der Welt», so der Tenor, selbst ein Jahrhundertsänger. Die hat man in Stuttgart nun nicht unbedingt auf dem Besetzungszettel.
Ernesto Petti als Graf Luna beispielsweise illustriert, was Verdi schon vor 131 Jahren in einem Brief beklagte: «Unsere Sänger können im Allgemeinen nur mit großer Stimme singen; sie haben weder stimmliche Elastizität noch klare und leichte Diktion, und es fehlen ihnen Akzente und Atem.» Petti bewältigt zwar die hohe Tessitura der Partie, aber mit festgeschnalltem Unterkiefer, oft zu laut, ohne Farben. Wenn die Arie «Il balen», eine Imagination jenes Glanzes, den Leonoras liebesentflammtes Lächeln verströmt, mit den Mitteln des Machismo gesungen wird, statt cantabile und dolcissimo, wie es in der Partitur heißt, verbleibt die Figur in der Eindimensionalität eines Bösewichts.
Von dem in Salerno geborenen Bariton hätte man mehr Eloquenz in der Textbehandlung erwartet, ebenso von der aus Vicenza stammenden Selene Zanetti als Leonora. Die Sopranistin beginnt schwach. Und mögen sich die starken Intonationstrübungen auch im Laufe des Abends verflüchtigen, neigt sie dennoch dauerhaft zum Verschleppen des Tempos und zu schwacher vokaler Formung der Ausdrucksdetails. In ihrer zweiten großen Arie («D’amour sull’ali rosee»), Verdis Belcanto-Reminiszenz, hört man einige glockige (Piano-)Hochtöne, allerdings keine locker-gerundeten Triller. Den entrückten Charakter trifft Zanetti mehr im Spiel. Der Brasilianer Atalla Ayan klingt in der Rolle des Titelhelden anfangs matt, steigert sich aber nach der Pause enorm und gewinnt insbesondere dem Inwendigen weit mehr ab als sein Rivale Luna. Mit langer Linie und Schattierungen wird «Ah! sì, ben mio» zur zärtlichen Liebeserklärung – ungelenk einzig der Triller und die Gruppetti. Heroisch, ohne das heroische Material dafür zu besitzen, wagt sich Ayan an die Stretta in der Original-Tonart, kämpft aber mit den hohen C’s: Maske und Kopfstimme sind nicht gut gemischt, es fehlt an Stabilität. Im Finale ultimo überzeugt der Tenor dann mit Schmelz und gut platzierten Tönen.
Die Azucena ist mit Kristina Staneks schlankem Mezzo gänzlich gegen die Norm besetzt. Eher eine Olga, eine Carmen oder ein Prinz Orlofsky, setzt sie sich mit fokussiertem, apart nervös flackerndem Ton gegen das Orchester durch. Einige Schärfen fallen nicht ins Gewicht, denn mit musikalischer Phrasierung und sprachlicher Prägnanz zeichnet Stanek eine zwischen Trauer und Wahn taumelnde Figur von beinahe bemitleidenswerter Kindlichkeit, gegenüber Manrico von samtener Zärtlichkeit — die überzeugendste Leistung im Quartett. Ausgezeichnet besetzt sind die Nebenrollen: Michael Nagl als eindringlicher Ferrando und die vielversprechende Itzeli Jáuregui aus dem Stuttgarter Opernstudio als Inez.
Mit drei abgesetzten Crescendo-Takten von Pauke und großer Trommel beginnt Verdis Oper. Sofort ist klar: Zumindest im Orchestergraben steht ein großer Abend bevor. Mit Antonello Manacorda am Pult, der frei von Routine und Nachlässigkeit ist, wird wieder begreiflich, wie genial Verdi in dieser Partitur mit Klangchiffren, rhythmischer Energetik und Raumwirkungen das Bühnendrama entzündet. Manacorda dirigiert einen Verdi, wie man ihn in Stuttgart lange nicht gehört hat: klassizistisch in der strengen Nachzeichnung der Form, zugleich nachtromantisch düster – das Paradox illustriert die überwältigende Wirkung, die diese Musik entfaltet, liegt sie erst einmal in (diesen) richtigen Händen und wird sie so auf Kante, rhythmisch pointiert, ausladend passioniert phrasiert wie vom Staatsorchester. Der Premierenabend macht Antonello Manacorda zum heißen Kandidaten: Der derzeitige Generalmusikdirektor Cornelius Meister verlässt das Haus nach der Saison 2025/26 – in Stuttgart ist man längst auf der Suche nach einem Nachfolger. Als gleichermaßen in Oper und Konzert versierten Dirigenten hat man Manacorda im Blick.
Die Regie (Paul-Georg Dittrich) dekonstruiert das orchestral lodernde Drama brachial. In einem rechteckigen grauen Einheitstrichter (Bühne: Christof Hetzer) zieht ein psychedelischer Bilderreigen vorbei, eine Kopfgeburt des oft an der Rampe sitzenden Luna: erst ein Kinderspielplatz (nur dieses optischen Effekts wegen wurden die Frauenchorpartien einem intonationsschwachen Kinderchor übertragen – wenn das Verdi wüsste …), der später zum Folter- und Richtplatz mit Galgen mutiert – allein, die untoten, faschistoid anmutenden Schächer verbreiten wenig Horror. Dann verschlägt es Leonora, Luna und den später hinzukommenden Manrico in den Wilden Westen (inklusive totem Pferd), und am Ende strecken sie sich gegenseitig mit Revolvern nieder, um gleich umstandslos wieder aufzustehen. Es folgt eine Kirche des Grauens, vor der sich eine alberne Rotkäppchen-Persiflage abspielt: Barbie-Leonora und Ken-Manrico finden einander in einem angekokelten Kornfeld wieder, werfen sich einen bunten, aufblasbaren Strandball zu, bis er in kurzen Hosen zur Stretta das Maschinengewehr gen Himmel reckt – auch das nur ein krummes Plastikspielzeug. Pop-Pulp-Fiction, die die Figuren veralbert, in ihren Referenzen weder witzig noch originell und auf die Spitze des Absurden getrieben ist, wenn Gruftie-Azucena als Banksys Mädchen mit dem Luftballon auftritt. Statt Figuren stehen Schemen auf der Bühne.
Überhaupt fängt der Regisseur mit den Sängerinnen und Sängern wenig an, erst recht nicht mit dem Chor (was schon in seinem Stuttgarter «Boris Godunow» Anfang 2020 zu beklagen war), weshalb der Chor der «Zigeuner» – das böse Wort ist in den Übertiteln political-correct-affin durchgestrichen – akustisch unbefriedigend hinter der Szene singt. Nonnen würden im zweiten Bild des zweiten Teils auf der Bühne nur stören, weswegen die Chordamen gleich in den Orchestergraben verbannt werden – wieder fällt der Vorhang für ihren Grabenauftritt und zertrennt den Handlungsfluss. Das alles lähmt und lahmt. Zur Farce wird es, wenn die Szene die Musik verkleinert, wie im vierten Bild in der Kulmination des Duetts von Leonora und Luna. Ihr exaltiertes Aneinandervorbei-Singen doppeln Tänzer, die die vokalen Figurationen mit rasenden Breakdance-Pirouetten illustrieren und hochschrauben. Wenn nun ein an den Schauwert verloren gegangenes Publikum nicht Verdi und den Sängern, sondern dem billigen Effekt zujubelt, steigt eine schmerzliche Vision auf: Da ist nicht nur eine Produktion schiefgegangen. Da ist eine ganze Gattung in Gefahr. ___
Verdi: Il trovatore
STUTTGART | STAATSOPER
Premiere: 9. Juni 2024
Musikalische Leitung: Antonello Manacorda
Inszenierung: Paul-Georg Dittrich
Bühne: Christof Hetzer
Kostüme: Mona Ulrich
Licht: Alex Brok
Chor: Manuel Pujol
Kinderchor: Bernhard Moncado
Choreografie: Janine Grellscheid
Dramaturgie: Ingo Gerlach
Solisten: Ernesto Petti (Graf Luna), Selene Zanetti (Leonora), Kristina Stanek (Azucena), Atalla Ayan (Manrico), Michael Nagl (Ferrando), Itzeli Jáuregui (Inez), Piotr Gryniewicki (Ruiz), William David Halbert (Ein alter Mann), Ruben Mora Villegas (Ein Bote)
www.staatsoper-stuttgart.de
Opernwelt August 2024
Rubrik: Im Focus, Seite 18
von Götz Thieme
Er war, im November 1924, zur Bestrahlung seines Kehlkopfkrebses nach Brüssel gekommen. Brüssel aber wurde Puccinis Sterbeort, und er hinterließ seine letzte Oper unvollendet, mutmaßlich nicht nur nicht fertig komponiert, sondern stehengeblieben in einer dramaturgischen Sackgasse. Mutmaßlich hätte Puccinis Genie mit dem vorgesehenen außerordentlichen Liebesduett zum Finale das...
Aparte Idee: die Welt nicht als Buch oder philosophischer «Fall», sondern als Bauch, in ihrer Kugelgestalt würdig vertreten vor allem von einem Mann: Sir John Falstaff. Wuchtige zwei Yard misst sein Wanst, das muss genügen, um sich jeder Unbill couragiert entgegenzustellen oder, im Zweifelsfall, auch entgegenzuwerfen. Und wenn dann auch noch spanischer Sekt (wie Schlegel weiland den Namen...
Diese Tonart, das wissen wir nicht erst seit Puccinis Musikdramen, sondern bereits aus den Zeiten Johann Sebastian Bachs, verheißt wenig Wohliges. H-moll, das klingt nach Abschied, nach Sorgenfurchen, nach Tod. Und wenn Franz Schubert das letzte Lied der «ersten Abteilung» seiner «Winterreise» in diese Tonart kleidet, dann ahnt auch der Wanderer, dass sein Weg wohl kaum nach Arkadien...