Umwerfend
Das ist ja wirklich mal eine grandiose Überraschung. Nicht, dass man dem Theater Luzern eine solche Wundertat nicht zutrauen würde – das Haus war schon oft für Überraschungen gut. Aber das jetzt, das ist wirklich umwerfend. Antonio Vivaldis «Giustino», geschickt gekürzt auf eine Netto-Spielzeit von zweieinhalb Stunden, also immer noch recht lang, aber so süchtig machend, dass die Aufführung ewig dauern könnte; man würde diese Dauer gar nicht spüren, so elektrisierend ist die musikalische Qualität.
Erst einmal klingt das Luzerner Sinfonieorchester so, als spielte es nie etwas anderes als Alte Musik. Dirigent Jörg Halubek ist ja seit vielen Jahren schon ein Fachmann für das Metier; dass er aber einem «normalen» Opernorchester diese Agogik, diese Feinheit und bei kleiner Besetzung diesen enormen Farbenreichtum scheinbar selbstverständlich beibringt, ist wirklich erstaunlich. In winzigen Momenten denkt man, naja, zwei Geigen mehr hätten nicht geschadet. Aber das ist angesichts der Gesamtleistung eine marginale Spitzfindigkeit.
Noch umwerfender ist die Besetzung. Die wirkt ein bisschen wie eine späte Rache am Kastratentum – in Luzern darf ein einziger Mann mitsingen, und der ist natürlich der Schurke. Alle anderen Solopartien, ob Held, Liebende oder König, sind mit Frauen besetzt. So deckt die Aufführung (fast) das gesamte Spektrum der weiblichen Stimme ab, vom warmen Alt bis zu aberwitzig entfliegenden Koloraturen. Und alle sind fabelhaft. Natürlich, das Haus ist nicht groß, der Graben auch nicht, der Abstand zum Publikum gering. Aber diese Umstände haben ja bestenfalls etwas mit Lautstärke zu tun, nicht mit Klangschönheit und sängerischer Perfektion. Und diese gibt es hier über alle Maßen und zudem in allen Formen: von ausufernden Da-capo-Arien bis zu betörenden, liedhaften Zaubereien. Vivaldi prunkt in dieser Oper mit tausend Einfällen. Eine Melodie ist schöner als die andere, und doch gibt es einen Höhepunkt: die Arie des Titelhelden, in der dieser von der Größe seines Herzens (und der darin befindlichen Trauer) singt. Sie wird begleitet von Franziska Fleischanderl am Salterio, einer Art barocker Zither. Fleischanderl und Marcela Rahal zaubern ein instrumental-stimmliches Duett aufs imaginäre Parkett, ein symbiotisches Miteinander. Beide sind ausgestellt an der Rampe – das ist so toll, dass es am Ende der Aufführung, wenn alle Konflikte auf typisch barocke Art, also auf letztlich hanebüchene Art und Weise gelöst sind, wiederholt wird. Rahal vereint das Anrührende mit dem Hochvirtuosen, sie ist ein ganz und gar großartiger, von vielen Zweifeln geplagter Held.
Markus Dietz’ Inszenierung zeichnet sich durch einen bemerkenswert nonchalanten Zugriff auf die Volten dieser barocken Geschichte aus. Im Video erzählt er manchmal Vor-, Neben- und weiterführende Geschichten, bei der unwahrscheinlichsten aller Lösungen schreibt er diese einfach auf die Rückwand: «Das ist dein Bruder. Gruß Fortuna». Und schon ist alles geritzt, mehr muss man nicht erklären. Manchmal nervt der etwas hyperaktive Bewegungschor der Statisterie, der quasi als lebendes Bühnenbild agiert. Allerdings vollzieht sich hier alles mit einer solchen Rasanz, dass es nicht weiter schlimm ist. Die ruhigen Momente gehören an diesem staunenswerten Abend ohnehin den Stimmen: Tania Lorenzo Castro mit einer ausufernden Da-capo-Arie der Leocasta, Josy Santos, die mit aberwitziger Komik den Bruder des, naja, nun halt Schurken Vitaliano (Younggi Moses Do) singspielt, also als Frau einen Mann verkörpert, der wiederum, weil Liebe, eine Frau spielt. Makellos Eyrún Unnarsdóttir als Arianna und Marta Herman als Anastasio.
Premiere: 2., besuchte Vorstellung: 5. Mai 2024
Musikalische Leitung: Jörg Halubek
Inszenierung: Markus Dietz
Bühne: Ines Nadler
Kostüme: Mayke Hegger
Licht: Ivo Schnider
Video: Rebecca Stofer, Mayke Hegger
Choreografie: Phoebe Jewitt
Dramaturgie: Johanna Mangold
Solisten: Marcela Rahal (Giustino), Eyrún Unnarsdóttir (Arianna), Marta Herman (Anastasio), Tania Lorenzo Castro (Leocasta), Solenn‘ Lavanant Linke (Amanzio), Younggi Moses Do (Vitaliano), Josy Santos (Andronico); Salterio: Franziska Fleischanderl

Opernwelt Juni 2024
Rubrik: Panorama, Seite 57
von Egbert Tholl
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