Multiple Ströme

Sebastian Baumgarten und Gabriel Feltz spiegeln Wolfgang Rihms «Hamletmaschine» an der Zürcher Oper geschichtstief in die Gegenwart

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Europa hat ausgedient. Die blaue Sternenflagge taugt nur mehr als Tischtuch, als Unterlage für fettige Pommes und ein Sixpack Bier. Hamlet und Ophelia sitzen, mampfen und würgen. Zu sagen haben sie sich nichts, das Angebot von früher – «Lass mich dein Herz essen, Ophelia» – interessiert nicht mehr. Die Geschichte: ein Schlachtfeld. Der Mensch: verloren in Trümmern. Die umhertänzelnden Schreienden tun, was ihr Name ihnen aufträgt. Dann bleibt Ophelia allein, das Rolltor hat sich vor dem riesigen stahlgrauen Schiffsinneren, dieser Fähre vom Leben ins Nirgendwo, gesenkt.

«In allen Sprachen heißt die Zukunft Tod», so steht es in Heiner Müllers spätem Gedicht «Besuch beim älteren Staatsmann». In diesem letzten Moment singt Ophelia die enigmatischen Worte: «Wenn sie mit Fleischermessern durch eure Schlafzimmer geht, werdet ihr die Wahrheit wissen.»

Ihr Sopran durchzackt dabei das Notenliniensystem. Bei «Wahrheit» geht es zum hohen B, das sich zum H aufbiegt, worauf die Stimme eine Dezime hinabstürzt. Mit dem letzten Wort «wissen» steigt sie wieder aufs dreigestrichene C, fasst Atem und springt auf das tiefe H. Ganz allein, das Orchester schweigt. Mit allerletzter Kraft presst die Stimme ...

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Opernwelt März 2016
Rubrik: Im Focus, Seite 10
von Götz Thieme

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