Ungeschminkt
Wie Walhall tatsächlich aussieht, das wissen wir nicht. Es muss komfortabler sein als die Jurten, in der die Götter bislang hausten, vielleicht ist es aus Stein. Und auch am Ende, Millionen Jahre später, wenn Wotans Sippe ihre Felle längst gegen Anzüge und Kleider getauscht hat, bleibt der ersehnte Bau im Dunkeln. Ein paar siechende Rollstuhlfahrer sieht man hier nur, die zum Orchestertriumph ins Nichts der Hinterbühne fahren, begleitet von den Rheintöchtern als mahnende Krankenschwestern. Ein Endspiel.
Und dabei sind wir doch erst am «Rheingold»-Schluss: Wie soll das erst in der «Götterdämmerung» werden? Das, zumindest Logik und Stringenz einer fortschreitenden «Ring»-Handlung, interessiert in Dortmund bekanntlich kaum jemanden. Am dortigen Theater wird die gefühlt x-te Variation des Stuttgarter Prototyps durchgespielt. Vier Regieteams für vier Opern, so ging das 1999 am Neckar los. Vier Frauen (in Chemnitz), drei Regieteams allein für die «Walküre» (ebenfalls in Stuttgart), und aktuell in Dortmund ein Regisseur mit vier Ausstattern; im «Rheingold» ist es Jens Kilian.
Neuen Inhaltsschub soll dieses Aufbrechen des «Rings» bieten, vor allem eine Befreiung. Zumindest bei Peter Konwitschny ist das spürbar; auch die Reihenfolge mit «Walküre», «Siegfried», «Rheingold» und «Götterdämmerung» (2025 als Import seiner Stuttgarter Großtat aus dem Jahr 2000) wurde (nicht zuletzt durch Corona) durcheinandergewürfelt. Der 79-Jährige muss sich und der Welt nichts mehr beweisen. Entsprechend entspannt geht er auch ans «Rheingold». Das Krawallige, Übersteuerte ist dem Dauerzwinkern gewichen.
Wobei Konwitschny vorführt, dass die gute alte Brecht-Verfremdung, hier ein Geschwindmarsch durch die Historie von der Steinzeit über den Hyperkapitalismus bis zum Beckett-Finale, noch immer funktioniert. Vorausgesetzt, man kann’s. Und damit wären wir dann doch bei Kontinuitäten: Eben jene Verfremdungslust zieht sich durch alle «Ring»-Teile Konwitschnys. Auch das Bekenntnis zum leeren Raum im Sinne von Peter Brook, aus dem Theater erwächst. Und erst recht die Fokussierung auf die Figuren, die von innen heraus inszeniert werden.
Denn trotz Kritik an Kapitalismus und Ausbeutung, trotz Weltekel lässt es Konwitschny menscheln. Den in Freia verknallten Fasolt hat man kaum je so linkisch und berührend werben gesehen, inklusive Drucksen vor der gewünschten Schwiegermutter Fricka. Denis Velev gestaltet das so kraftvoll wie erotisch. Und als Wotan von jenem berühmten «einen Auge» singt, das er «werbend daran setzte», tippt sich die Gattin an die Stirn, frei nach dem Motto «Selten so ein Gefasel gehört».
Während die Götterschaft noch als Familie Feuerstein hereinschlurft und Wotan Riesenknochen statt Speer mit sich führt, wurde sie von Alberich in Sachen Zivilisationsentwicklung auf der Standspur überholt. Der einstige Zwergenkauz, der noch zum Es-Dur-Vorspiel im Orchestergraben angelte, ist nun Firmenboss mit Ausblick auf die Wolkenkratzer einer Megacity. Dass sein Tarnhelm nur ein immer wieder bedeutungsschwanger ins Licht gehaltenes Tablet ist, auf dem sich kaum sichtbare Bilder zeigen, sei dem Altmeister verziehen. Er ist eben doch erkennbar kein Digital Native.
Trotzdem: Die Inhalte sind da, werden jedoch auf lustvolle, burleske, satirische Weise realisiert. Konwitschnys Theater kommt mit ein, zwei Thesen aus, die er über zweieinhalb Stunden durchspielt, unplugged und ungeschminkt. Und wenn Pershings mit Atombomben Freia verdecken sollen, wenn es Flugblätter vom Rang regnet mit dem Textzitat «Falsch und feig’ ist, was dort oben sich freut», dann ist das Agitprop aus der Regiesteinzeit – die allerdings noch immer Wirkung zeitigt, denn das Publikum reagiert (was Konwitschny vermutlich erheitert) wie damals: Es buht.
Nur einmal gibt es ein Extra, eine aparte Erweiterung. Dass Erda zu einem frühen «Ring»-Zeitpunkt gern mit ihren «Walküren»-Babys gezeigt wird, ist inzwischen fast Usus. Bei Kon -witschny kommt sie als Obdachlose mit Einkaufswagen samt Habe in Plastiktüten, doch gleich mit 20 Kindern im Schlepptau. Melissa Zgouridi verkörpert Wotans ehemalige Geliebte mit großem Nachdruck, aus der Haltung einer zutiefst Enttäuschten. Die drei jungen Nornen führt Erda mit, sie wickeln ihr rotes Seil um die Füße der Riesen und Götter. Aber auch ungeklärter Nachwuchs ist dabei – als ob es da genügend Stoff für einige «Ring»-Sequels gäbe. Noch, so scheint Konwitsch -ny zu signalisieren, lässt Wagner sogar in seinen 15 Stunden einiges offen über den Sturz der Menschheit.
Trotzdem bleibt der Regie-Ton munter an diesem Abend. Was eine andere Haltung seitens der Musik verlangt hätte. Mit Gabriel Feltz, dem nach Kiel wechselnden Generalmusikdirektor, hat Konwitschny den falschen Dirigenten erwischt. Feltz weiß viel übers «Rheingold». Es gibt ungewohnte Schärfungen und Hervorhebungen, auch über -raschend emanzipierte Mittelstimmen im harmonischen Verlauf. Doch vieles tritt auf der Stelle, ist allzu verliebt in den Augenblick. Vor allem aber überhört Feltz mit den dadurch konditionell stark beanspruchten Dortmunder Philharmonikern, dass es sich um ein Konversationsstück handelt. Um eine Tempo-Architektur also, die sich am Sprechtempo orientieren muss.
Die passende Besetzung hätte Dortmund dafür. Auf der Bühne sind keine vokalen Sumō-Ringer unterwegs, hier wird mit Florett gefochten. An der Spitze Joachim Goltz, der einen sehr prägnanten, nie forcierten Alberich singt. Auch Tommi Hakala (Wotan), Ursula Hesse von den Steinen (Fricka), vor allem Matthias Wohlbrecht (Loge) und der lyrische, empfindsame Fritz Steinbacher als Mime sind Singschauspieler(innen), die nicht in Würde und Pathos erstarren.
Böser, auswegloser, erschütternder wird es ja nächstes Jahr, wenn Konwitschny seine «Götterdämmerung» auffrischt. Die Kulissen hatten die Stuttgarter eingelagert, angeblich kommt es zu keiner umfassenden Überarbeitung. Was es vielleicht auch nicht braucht, glückte dem Regisseur doch seinerzeit eine so zeitlose wie tief lotende Deutung, die das Finale der Imagination des Publikums überließ. Womit sich Dortmund, wenn man alles zusammenzählt, mit einer der stärksten «Ring»-Parabeln der jüngeren Zeit brüsten darf.
Wagner: Das Rheingold DORTMUND | OPER
Premiere: 9. Mai 2024
Musikalische Leitung: Gabriel Feltz
Inszenierung: Peter Konwitschny
Bühne und Kostüme: Jens Kilian
Licht: Florian Franzen
Dramaturgie: Bettina Bartz & Daniel C. Schindler
Solisten: Tommi Hakala (Wotan), Morgan Moody (Donner), Sungho Kim (Froh), Matthias Wohlbrecht (Loge), Ursula Hesse von den Steinen (Fricka), Irina Simmes (Freia), Melissa Zgouridi (Erda), Joachim Goltz (Alberich), Fritz Steinbacher (Mime), Denis Velev (Fasolt), Artyom Wasnetsov (Fafner), Sooyeon Lee (Woglinde), Tanja Christine Kuhn (Wellgunde), Marlene Gaßner (Floßhilde)
www.theaterdo.de
Opernwelt Juni 2024
Rubrik: Im Focus, Seite 11
von Markus Thiel
Eine Ära ist schon wieder vorbei: Wer als Burgherr abtritt, ist Denkmal für immer. Die fünf Jahre von Martin Kušej im Überblick
Haiko Pfost hat das Freie-SzeneFestival Impulse sieben Jahre geleitet und tritt jetzt ab: eine Bilanz im Gespräch
Anja Schneider und ihre Mitspieler:innen zeigen eine neue Seite an Sivan Ben Yishais «Nora oder Wie man das Herrenhaus kompostiert»: der Stückabdruck...
Ein Mann begegnet eines Tages jemandem, der genauso aussieht, wie er selbst – seinem Doppelgänger. Von Stund’ an wird der Titularrat Goljadkin im zaristischen Russland zum Objekt einer Bewusstseinsspaltung, die ihn schließlich in den Wahnsinn treibt. Soweit die Geschichte in Fjodor Dostojewskis Roman «Dvojnik» («Der Doppelgänger») von 1846. Eine Dystopie, schon deshalb waren die...
An Rusalka scheiden sich die Geister. Weniger jedoch am Bühnenwerk gleichen Namens, sondern vor allem an dessen Titelheldin selbst, der schüchtern-schönen Schwester Undines und Melusines. Was bitte soll man machen mit einer Nymphe, die man sich heutzutage nur mühsam auf schweren Schwanzflossen über eine Bühne gleitend vorstellen kann? Welches «Bild» wäre wohl passender, um sie in unsere...