ÜBER GRENZEN HINWEG
Diese Frau. Wir kennen sie nicht. Und doch wissen wir instinktiv, wer sie ist, was mit ihr geschieht. Oder bereits geschehen ist? Ganz klar wird das nicht. Sichtbar sind nur jene Tränen, die in Zeitlupe erst über die linke, dann über die rechte Wange kullern. Und ihre Augen, die uns fixieren, über Minuten, und deren Ausdruck anmutet wie der flehentliche Versuch, das Unheil vielleicht doch noch abzuwenden. Aber ist zu spät. Die Musik hat bereits eingesetzt, der Lauf der Dinge ist nicht mehr aufzuhalten. Die Frau verschwindet.
Es ist ein starkes Bild, mit dem Sarah Derendinger uns im Theater Luzern unvermittelt in die beklemmende Atmosphäre von Brittens Kammeroper «The Rape of Lucretia» hineinzieht, in diese grauenhafte Ambivalenz aus (männlicher) Gewalt und (weiblicher) Verzweiflung. Dass sie es mit einem vorab gedrehten Video tut, in dem Solenn’ Lavanant Linke (als Lucretia) zu sehen ist, verwundert wenig. Derendinger ist von Haus aus Videokünstlerin. Aber sie ist, dies bezeugen die folgenden zweieinviertel Stunden nachdrücklich, auch als Regisseurin begabt.
Ohne moralinsäuerlich zu werden, zeigt die gebürtige Luzernerin Männer als hemmungslose, zynische Akteure der Macht. Und ...
Weiterlesen mit dem digitalen Monats-Abo
Sie sind bereits Abonnent von Opernwelt? Loggen Sie sich hier ein
- Alle Opernwelt-Artikel online lesen
- Zugang zur Opernwelt-App und zum ePaper
- Lesegenuss auf allen Endgeräten
- Zugang zum Onlinearchiv von Opernwelt
Sie können alle Vorteile des Abos
sofort nutzen
Opernwelt Mai 2022
Rubrik: Panorama, Seite 64
von Jürgen Otten
Sextourismus ist - leider Gottes - international, und die sexuelle Ausbeutung von Frauen trägt viele Namen. Im Musiktheater im Revier Gelsenkirchen heißt sie «Madama Butterfly» und stammt aus der Feder von Giacomo Puccini.
Die psychologisch nuancierte Inszenierung von Gabriele Rech nimmt ernst, was Puccini und seine Librettisten dem Werk (zwischen den Zeilen)...
Im «Einheitlichen Staat» funktioniert alles reibungslos, nach mathematischen Prinzipien eingerichtet vom Großen Wohltäter. Die Menschen tragen Nummern und sind alle gleich. Für ihre «glücklichen Stunden» werden sie einander zugelost, sodass sie sich nicht mehr in Gefühle verstricken müssen. Dem Großen Wohltäter sind sie dafür so dankbar, dass sie ihn regelmäßig...
Vor genau 100 Jahren ereignete sich ein kulturhistorischer Donnerschlag: die Berliner Uraufführung von Friedrich Wilhelm Murnaus Stummfilm «Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens». Vieles kam da zusammen: der schwarzromantische Vampir-Topos, die Verunsicherung nach dem Ersten Weltkrieg und last, not least eine unerhört suggestive Kino-Phantasmagorie, die bis heute...
