Montserrat Caballé. Interview 2003

Señora Caballé, Sie waren schon als Kind sehr musikalisch, haben Bach, Mozart und Puccini geliebt und viel gesungen. Was hat Ihnen damals die Musik, in einer von Krieg und Not überschatteten Zeit, bedeutet?
Musik war für mich immer gleichbedeutend mit Freude. An die ganz frühen lahre kann ich mich allerdings nur schemenhaft erinnern. Um zu erfassen, was Krieg bedeutete, war ich noch zu klein. Eher erinnere ich die Zeit danach, die sehr schwer für uns gewesen ist. Meine Mutter und mein Vater gaben mich in Obhut und fuhren aufs Land, um in den Dörfern etwas Essbares für uns zu erstehen. Ich sehe noch die Schlangen von Menschen, die vor den Geschäften warteten, um etwas Brot für ihre Wertmarken zu erhalten. Diese Schwierigkeiten sind mir im Gedächtnis geblieben, aber auch die große Liebe meiner Eltern zur Musik. Meine Mutter spielte Klavier, nicht besonders gut, aber immerhin schöne Walzer und spanische Volkslieder. Ebenso wie mein Vater gern sang, obwohl er keine große Stimme hatte. Wir musizierten gemeinsam, oder ich trug meinen Eltern etwas vor, weil ich wusste, dass es sie erfreute.

Den Eltern eine Freude zu bereiten, war Ihnen wichtig?
Ja, natürlich. Außerdem fällt einem der Zugang zur Musik sehr leicht, wenn man ständig von ihr umgeben ist. Wir besaßen einige Konzertplatten, die Vater immer wieder spielte. Dadurch habe ich das Duett aus «Rigoletto» gelernt, das ich auf einem kleinen Sonntagsfest gemeinsam mit meinem Vater vortrug. Oder die «Butterfly».

«Madame Butterfly» war es auch, die Sie während Ihres ersten Opernbesuches 1942 am Teatro del Liceu erlebten. Dieser Abend wurde für Sie zu einem Schlüsselerlebnis.
Ja, und zwar von dem Moment an, als wir unsere Wohnung verließen und mit der Straßenbahn zum Opernhaus fuhren. Als wir uns dem Liceu näherten und ich das imposante Gebäude zum ersten Mal aus der Nähe betrachtete, war ich ungeheuer beeindruckt. Natürlich steigerte sich meine Erregung noch durch die Aufführung: Ich war wie berauscht von der Musik. Die Szene, in der die Butterfly sich umbringt, um ihr Kind zu retten, erschütterte mich so tief, dass ich noch heute oft daran zurückdenke. Damals konnte ich die ganze Nacht nicht schlafen und fragte am nächsten Tag meinen Vater: «Sag, Papa, sie hat sich doch nicht wirklich verletzt, als sie sich das Messer in die Brust stieß?» Dieser Abend hat mein Schicksal besiegelt; ich glaube sogar, es war das größte Erlebnis meines Lebens.

Da Ihre Familie aber arm war und der Vater früh unter gesundheitlichen Problemen litt, brachte Ihre Mutter als ungelernte Arbeitskraft jedes nur erdenkliche Opfer, um die Familie irgendwie durchzubringen und Ihnen eine Gesangsausbildung zu finanzieren. Fühlten Sie sich ihr gegenüber schuldig wegen ihres unermüdlichen Einsatzes?
In manchen Momenten ja. Es betrübte mich mitanzusehen, wie wenig Nützliches ich zu unserem Lebensunterhalt beitragen konnte. Ich wollte etwas hinzuverdienen und meine Mutter bei ihrer Heimarbeit entlasten. Das tat ich auch, aber natürlich nur in den Stunden, die ich nicht am Konservatorium zubrachte. Daher versuchte ich, möglichst die Abendklassen zu nehmen, so dass ich am Vormittag in der Fabrik und am Nachmittag zu Hause bei meiner Mutter aushelfen konnte. Oft sagte ich zu ihr: «Warte nur, gedulde dich: Wenn ich erst berühmt bin, wird es dir an nichts mehr fehlen.»

Wurde nicht dadurch Ihr Gefühl oder der Druck, etwas leisten zu müssen, umso größer?
Der Druck war nicht anders als in anderen Familien Spaniens zu jener Zeit.

Und der Wille, in Ihrer Ausbildung voranzukommen?
Ich weiß nur, dass ich unendlich viel und so schnell wie möglich studierte.

Ist es nicht bemerkenswert, dass immer die Mütter alles daran setzen, ihren Töchtern eine ruhmreiche Bühnenkarriere zu ermöglichen?
Nein, eher ist es Mutterliebe! Meine Mutter hat sich, wie jede andere auch, immer dafür eingesetzt, ihren Kindern Nahrung, Kleidung, ein Dach über dem Kopf und eine Ausbildung zu ermöglichen. Außerdem wollte sie mich immer beschützen und vor Überanstrengung bewahren: «Du musst dich schonen, Kind, damit du etwas mehr vom Leben hast, nicht immer Arbeit, Arbeit!», sagte sie dann. Und ich entgegnete: «Aber ich bin daran gewöhnt zu arbeiten, Mama, seit langem schon.» Vielleicht kann ich's deshalb bis heute nicht lassen.

Sehen Sie rückblickend einen Sinn in den Entbehrungen Ihrer Kindheit? Die Armut Ihrer Familie führte ja zum Beispiel dazu, dass sie in der Schule gehänselt und gemieden wurden, weil Sie über Jahre immer dasselbe Kleid trugen.
Zunächst war das nichts Ungewöhnliches; viele Kinder armer Familien trugen in der Zeit nach dem Krieg ihre Kleider mehrere Jahre lang. Ich war also nicht die Einzige und habe daher nicht wirklich unter den Hänseleien gelitten. Wenn sie mich im Konservatorium schief anschauten, weil ich, wie sie meinten, «immer in Uniform» kam, dachte ich nur: «Menschenskind, ja. Aber ich kann besser singen.» Aus der Gesangsklasse ging ich immer mit der «Zehn» hervor, der besten Note - und zwar immer im selben Kleid, jahrelang. Das schaffte keiner außer mir. Wer weiß, vielleicht hat es mir sogar Glück gebracht, mein schlichtes Kleid – meine «Nummer Zehn». Auf das Gerede von Leuten, die wenig Talent für das Gute besitzen, habe ich noch nie etwas gegeben. Ebenso wie ich mich nie in fremde Angelegenheiten eingemischt habe. Ich bin nicht für Social Life, ich bin nicht für L'Amour. Das Wichtigste ist immer meine Arbeit. Nur meine Familie ist noch wichtiger.

Glauben Sie, dass Sie durch die leidvollen Erfahrungen in der Kindheit und Jugend eine besondere Sensibilität für Musik entwickelt haben?
Denkbar wäre es. Vor allem war es die Musik als solche, die mich sensibilisiert hat. Musik macht die Menschen besser. Weil Musik etwas ist, das der Mensch empfängt und erlebt. Daran glaube ich, das ist auch einer der Gründe, warum ich mich für die Unesco einsetze. Ich betreue zum Beispiel in verschiedenen Städten Brasiliens eine Reihe von Dörfern für behinderte Kinder. Wenn ich mit ihnen spreche, können mich diese Kinder verstehen; wenn ich aber mit ihnen singe, sind sie wie entrückt, sogar bei einfachsten Liedern. Nur Musik kann das bewirken; Sie glauben nicht, was für ein Erfolg das ist, wie viel mir das bedeutet, selbst auf Spanisch könnte ich es nicht in Wort fassen. Auch als ich bei Mutter Teresa in Indien war, ihre Kranken besucht und für sie gesungen habe, war es wie Weihnachten, wie ein großes Fest. Ich kenne einige indische Lieder, Zubin Mehta hat sie mir beigebracht; und als ich sie vortrug, spürte ich, mit welcher Freude die Menschen die Musik erwartet hatten und empfingen.

Nochmal zurück zur Frage: Haben die leidvollen Erfahrungen der Kindheit und Jugend Sie besonders empfänglich für Musik gemacht?
Wissen Sie, ich glaube, der Mensch ist, wie er ist. Er trifft auf seinem Weg ein paar Entscheidungen, die sein Leben bestimmen, beeinflussen, verändern. Meine wesentliche Entscheidung fiel auf die Musik, der ich mich seit meiner Kindheit verbunden fühle. Musik ist meine Wahrheit - Musik, Leid, Hoffnung und Arbeit, sehr viel Arbeit. Dadurch hat sich mein Leben erfüllt. Und durch das Gefühl, angekommen zu sein, etwas geschafft zu haben: zum Beispiel, dass meine Familie nicht mehr hungern muss, dass ich einen Arzt bezahlen kann, wenn er gebraucht wird, und dass jemand da ist, der immer für sie einsteht, egal, worum es sich handelt. Ich habe viel Leid erfahren, mein Leben lang. Aber meine Eltern haben mich gelehrt, dass die schönste Erfahrung eines Menschen nicht in der Erfüllung eigener Hoffnungen oder Wünsche liegt, sondern in dem, was man anderen Menschen geben kann. Darin liegt der größte Erfolg – im Geben ohne zu fragen.

Während Ihrer Zeit am Konservatorium hatten Sie zwei herausragende Gesangslehrerinnen: Conchita Badiä und Eugenia Kemmeny. Ist es auf diese Lehrerinnen oder auf Ihr willensstarkes Wesen zurückzuführen, dass Sie später als Einzige Ihres Jahrgangs Weltkarriere gemacht haben?
Auch auf diese beiden Lehrerinnen. Ohne sie hätte ich es nie geschafft. Ihr Wissen und ihr Vorbild haben mich meine ganze Karriere hindurch begleitet; von ihnen habe ich alle entscheidenden technischen und künstlerischen Impulse erhalten.

Haben Kemmeny und Badiä Ihren Aufstieg noch miterlebt?
Badiä hat noch viele Jahre gelebt und somit meine glänzenden Momente mitverfolgt. Ich habe ihr oft geschrieben und mich immer wieder bedankt für alles, was sie und Kemmeny für mich getan haben. Kemmeny ist leider einige Zeit nach meinem Debüt in Barcelona gestorben. Beide waren phantastische Lehrerinnen, die keinen Zweifel daran ließen, wie hart man arbeiten muss, um Karriere zu machen. Als ich aber spürte, dass ich das Potenzial dazu hatte, lernte, übte und studierte ich ohne Ende. Nicht nur, um Professorin zu werden, falls es eines Tages doch nicht zur Solistin reichen sollte, sondern auch, um meine Persönlichkeit durch Musik zu bilden.

Sie verausgabten sich jedoch so sehr, dass Sie nach Ihrer Examensdarbietung ohnmächtig auf der Bühne zusammenbrachen.
Ja, auf der kleinen Bühne des Konservatoriums, nach dem letzten Ton. Ich fiel, weil ich körperlich wirklich sehr schwach war. Vielleicht wäre ich besser zu Hause geblieben an jenem Tag, doch dann hätte ich das Examen nicht ablegen können, sondern warten müssen bis zum nächsten Jahr. Im Moment war das natürlich eine Katastrophe.

Nach Abschluss des Konservatoriums hatten Sie zwar eine hervorragend ausgebildete Stimme, waren aber unbekannt, mittellos und schüchtern wie zuvor. Sie standen wieder vor dem Nichts, die Hoffnungen und Erwartungen der Familie im Hintergrund.
Ja. Ich wusste, ich musste Geld verdienen. Doch in Spanien gab es damals außer dem Liceu nur sehr wenige berufliche Möglichkeiten für mich. Ich war arm, und ich kannte niemanden. Darum beschloss ich, nochmals mit der Mäzenaten-Familie Bertrand zu sprechen. Ich bat sie, mir einige Reisen zu finanzieren, um an Vorsingen teilnehmen zu können, vielleicht Erfolg zu haben und einen Vertrag zu ergattern. Sie halfen mir, und so konnte ich nach Italien, Stuttgart und schließlich nach Basel fahren, wo ich mein erstes Engagement erhielt. Das gab mir einen Ruck, und ich sagte mir: «So! Jetzt mache ich Karriere!» Ich wartete nicht auf den Erfolg, ich machte Karriere. Und zwar nur, um Geld zu verdienen - um meiner Familie und mir ein besseres Leben zu ermöglichen.

In Basel (1956-1959) hausten Sie mit Vater, Mutter und Bruder in einer kleinen, düstren Dachkammer, ganz wie die Mimi in «La Bohème»: Wie erinnern Sie Ihre erste Mimi, die Sie damals sangen?
An jenem Abend kam ich nur zum Einsatz, weil sämtliche Zweit- und Drittbesetzungen krank geworden waren. Es war meine erste große Solopartie, und ich dachte immerzu: «Ich muss es schaffen, muss gut singen und versuchen, mich in diese himmlische Musik hineinzugeben.» Dann ging ich auf die Bühne, und es geschah. Und plötzlich wurde mir klar, dass ich nicht Erfolg hatte, sondern sogar belohnt wurde dafür. Es war wie ein Wunder, wie ein Märchen. Mein anzes Leben ist wie ein Märchen, wirklich. Sollte ich je ein Buch darüber schreiben, wird mir vermutlich keiner glauben.

Die Geschichte mit der Mimi hat tatsächlich etwas Märchenhaftes, weil die Bühnensituation Ihrem wahren Leben glich.
Ja. Aber das war mir damals gar nicht so bewusst. Ich habe nur empfunden, wie wunderbar es war, von der Musik Puccinis getragen zu werden und diese durch meinen Gesang zu verkörpern. Vielleicht haben die Menschen durch den Klang meiner Stimme erahnt, wie arm ich selbst gewesen bin, wer weiß. Fest steht, dass ein Gefühl, ob froh oder traurig, empfunden sein muss, um ein Klang zu werden. Weil es die Welt eines Menschen, des Komponisten, verkörpert. Mein ganzes Wesen gründet auf dieser Erfahrung, in allen Rollen habe ich sie mir zunutze gemacht: Ob Puccini, Strauss, Beethoven oder Mozart - es waren Gefühle, mit denen die Komponisten ihre Werke kreierten und die bis heute durch ihre Musik erklingen. Als Sänger muss man versuchen, ihrer Inspiration - ihrer Grandiosität - zu folgen. Und darum habe ich mich immer sehr bemüht. Ein Sänger, der das nicht respektiert, macht den Komponisten klein.

In dieser Frage haben Sie sich des öfteren mit Kollegen überwarfen oder auch verschworen. Zum Beispiel während einer Produktion von «Turandot» im Teatro Colón in Buenos Aires, als es zwischen Ihnen und dem Dirigenten zu einer Meinungsverschiedenheit kam und die große Birgit Nilsson Ihnen zur Seite stand.
Ja, der Dirigent und ich vertraten unterschiedliche Ansichten in der musikalischen Interpretation. Ich hatte schon meine Koffer gepackt, als mich der Intendant des Hauses überraschend zum Gespräch zurückrief. Flankiert von Birgit Nilsson und dem Dirigenten saßen wir an seinem Tisch, und er sagte: «Es gibt ein großes Problem. Wir haben Ihnen abgesagt und suchen eine andere Liu, finden aber keine. Und die Turandot, Frau Nilsson, will ohne Sie nicht singen - dabei hat das Haus seit Jahren auf Frau Nilsson als Turandot gewartet...» Ich war total überrascht. «Wenn die Position von Frau Nilsson ist, wie sie ist», sagte da der Dirigent, «muss ich Sie eben bitten lauter zu singen, Frau Caballé!». Nun stand Birgit Nilsson auf und sagte: «Maestro, immer wenn ein Sänger nicht nur Stimme, sondern auch Persönlichkeit besitzt, wird er automatisch kritisiert. Sie ist eine junge Sängerin, aber sie singt wie keine andere: Pipipi bei Puccini!!!» Sie meinte Piano-pianissimo! «Wundern Sie sich nicht, wenn Sie ihr morgen wieder begegnen, an einem der großen Häuser - weil sie ein Weltstar werden wird!» «Also», sprach der Intendant, «singen Sie, Frau Caballé, aber versuchen Sie, sich mehr nach dem Maestro zu richten.» Das war am Vormittag. Für den Nachmittag hatte der Intendant eine außerordentliche Probe angesetzt. Ich war noch beim Umkleiden, als man mir sagen ließ, Frau Nilsson wolle mich sprechen.» Ich ging zu ihrer Garderobe und fragte: «Madame?» Und sie sagte: «Lassen Sie sich nicht irritieren von diesem Dummkopfl» Das waren exakt die Worte, die sie gebrauchte. «Singen Sie nicht lauter. Singen Sie, wie Sie immer gesungen haben, Sie sind die beste Liù, die ich je gehört habe. Der Dirigent muss das Orchester runterbringen. Außerdem hat das Colón eine tolle Akustik!» Und so sang ich. Was zur Folge hatte, dass der Dirigent gleich nach der Probe auf mich zukam und mir in wenig schmeichelhaftem Tonfall verkündete: «Ich werde nie wieder mit Ihnen arbeiten, wo immer auf dieser Welt!» Das war sein Toi-toi-toi für die Premiere, die mir aber wenig später einmalig gut gelang; ich besitze noch eine private Aufnahme davon. Als wir uns am Ende der Vorstellung alle aufstellten, um uns zu verbeugen, kam Birgit Nilsson auf mich zu, nahm meine Hand und ging mit mir auf die Bühne, obgleich mich damals kaum einer kannte. Gemeinsam nahmen wir den Applaus entgegen, dann trat sie auch noch zurück, ging weg und ließ mich draußen allein. Das war nicht vorgesehen, und ich dachte: «Was für eine große Dame, das werde ich ihr nie vergessen.» Auch in späteren lahren war sie immer sehr lieb zu mir. Und sie hatte viel Humor: Eine Zeit lang waren wir gemeinsam an der Metropolitan Opera in New York engagiert. Sie sang die Elektra, ich die Luisa Miller und Renata Tebaldi, die ebenfalls am Hause engagiert war, die Gioconda. An einem Vormittag trafen wir drei zufällig aufeinander, als ich in einer Matinee gesungen hatte, Nilsson zur Probe ging und Tebaldi gerade von der Probe zu ihrer «Gioconda» kam. Als Nilsson uns begegnete, neigte sie sich, den Blick auf uns gerichtet, einer anderen Sängerin zu und sagte: «In diesem Hause musst du entweder schreien wie die eine oder ohne Stimme singen wie die andere – vorausgesetzt du willst Erfolg haben!»

Zurück zu Ihren Anfängen: Von Ihrem zweiten Engagement, Bremen (1959-1962), haben Sie oft sehr kritisch gesprochen. Das feuchte Klima, der lange, kalte, dunkle Winter, die deprimierende Enge Ihres Zimmers, der Stadt an sich... Wenn Sie von Gastspielen wiederkamen, war es eine Rückkehr «wie in ein Gefängnis», und bald waren Sie so verzweifelt, dass Sie den Beruf aufgeben wollten. Was hielt Sie damals davon ab?
Der Rat meines Bruders. Bremen war das Gegenteil von Basel. In Basel schien alles wie im Märchen, wie ein Traum, der in Erfüllung ging. Bremen dagegen war nur Arbeit, alles war sehr präzise, sehr genau: Musik, Bühne, Umgangsformen.Andererseits war das, was ich dort gesungen habe - «Madame Butterfly», «Die verkaufte Braut», «Eugen Onegin» - eine große Schule für meine spätere Arbeit mit den größten Orchestern, den größten Dirigenten der Welt. Wenn man an die großen, internationalen Häuser will, sind praktische Erfahrungen von unschätzbarem Wert. Man muss vorbereitet sein, und ich war vorbereitet. Bremen war meine Universität, meine Vorbereitung auf die Zukunft. Damals habe ich das nicht so gesehen. Damals habe ich nur gedacht, mein Traum, mein Märchen ist zerstört. Bremen war hart, sehr hart, und das machte mich kaputt. Jeder blieb für sich, auch auf den Proben. Ein Tag glich dem anderen, ohne jede Illusion. Aber jeder Mensch braucht Illusionen, in der Arbeit und im Leben. Ein Mensch ohne Illusionen ist nichts als eine Hülle, leer und allein. Vielleicht lag es an mir, vielleicht an der Atmosphäre, jedenfalls war ich immer sehr deprimiert in Bremen. Darum wollte ich meinen Beruf aufgeben und weg von alledem.

Verständlich, wenn man bedenkt, dass Ihr Lohn darin bestand, die ganze Familie durchzubringen, dass Sie Sorgen meist allein ertragen mussten und auch die Hoffnung auf Liebe fast begraben hatten. Mit einunddreißig waren Sie noch immer unberührt. Gab es da kein Bedürfnis nach Zuwendung?
Nein. Dafür blieb mir keine Zeit.

Oder gar Liebe?
Die Liebe hatte ich zur Musik wie zu keinem Mann. Nein, nein, das war für mich nicht nötig. Erst, als ich meinen Mann kennen lernte, dachte ich, was für eine Idiotin ich war, so viele Jahre verloren zu haben. Aber da war ich eben schon einunddreißig, da war nichts zu machen.

Ihre Hochzeit im Sommer 1964 fiel ja buchstäblich ins Wasser.
Ja, es schüttete wie aus Eimern. Ich war ohnehin spät dran, und dann blieb unser Auto liegen, auf der Anhöhe zur Kapelle von Montserrat. Die anderen Wagen waren längst außer Sichtweite, und so standen wir im Regen - ich im Brautkleid - , bis ein Eselkarren anhielt und uns bis zum Kloster kutschierte, wo wir schließlich völlig durchnässt und verschmutzt getraut wurden. Es wurde aber trotzdem eine sehr schöne Hochzeit.

Im Jahr darauf gingen auch berufliche Wünsche in Erfüllung. Am 21. April 1965 titelte die «New York Times»: «Callas + Tebaldi = Caballé». Als Lucrezia Borgia waren Sie kurzfristig für die hochschwangere Marilyn Horne eingesprungen und wurden vom Publikum der Carnegie Hall ekstatisch gefeiert. Waren Sie da froh, erleichtert oder ein wenig schockiert?
Überrascht! Es war eine große Überraschung für mich.

Also kein selbstverständlicher Triumph?
Nein, nein. Ich konnte es kaum glauben, als es passierte. Wenn man so etwas zum ersten Mal erlebt, weiß man nicht recht, wie einem geschieht. Man hat zehn Tage zuvor in «Don Giovanni» oder «La traviata » gesungen, auch sehr erfolgreich, aber nicht in diesem Maße. Noch dazu war dies mein erster großer Belcanto-Auftritt. Eigentlich war ich mir gar nicht ganz sicher, wie ich die Lucrezia vortragen sollte. Aber in der Zeitung wurde ich als «eine große Belcanto-Spezialistin» gepriesen. Somit schien ich zu wissen, was ich tat, denn Belcanto bedeutet ja «schön singen», und das, so meinte der Dirigent Carlo Felice Cilario, der mir dazu geraten hatte, sei meine natürliche Begabung.

Achtunddreißig Jahre sind seither vergangen, und Sie singen noch immer. Warum - nach nahezu fünf Jahrzehnten, Señora Caballé?
Warum nicht? Die Alternative wäre doch, ängstlich zu Hause zu bleiben oder sich einen anderen Beruf zu suchen, der einem keine Angst macht. Ich glaube nicht, dass wir auf die Erde kommen, um es leicht zu haben. Der Mensch muss etwas tun, um sein Brot zu verdienen, etwas, woran er glaubt, woran er festhalten kann. Und für mich ist das die Musik. Musik ist Hingabe, Dienst, Berufung für mich. Es geht mir nicht darum, auf der Bühne zu stehen und den Mund aufzumachen. Von allein könnte ich das gar nicht tun, ich tue es im Dienst der musikalischen Schöpfung. Genau wie die Menschen, die kommen um zuzuhören. Sie kommen nicht um meinetwillen - wer da auf der Bühne steht, ist ganz egal. Die Menschen kommen für Mahler, Mozart, Bruckner oder was weiß ich. Es ist die Musik, die die Menschen bewegt.

In Ihrer Biographie sagen Sie, die Menschen kämen auch, um den Mythos Caballé zu erleben.
Schon. Aber das geschieht zunächst aus Neugier. Ich hoffe, dass es mir mit der Musik gelingt, in ihre Herzen vorzudringen, sie zu gewinnen für die Musik. Musik ist der beste Pass, um Menschen zu erreichen.

Das Gespräch führte Jörn Jacob Rohwer

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