Die Mitte finden

Seine Inszenierungen sorgen regelmäßig für Kontroversen. Es sind radikal auf den Kern reduzierte Deutungen, die Benedikt von Peter am liebsten im Team entwickelt. Ein Gespräch über die Magie des leeren Raums, das Glück flacher Hierarchien und die Frage, wie viel Marxismus das Theater verträgt

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Seine Inszenierungen sorgen regelmäßig für Kontroversen. Weil sie Stoffe, Stücke und Charaktere bis auf den Kern abklopfen. Was bedeuten kann, dass – wie im Fall von Verdis «Traviata» – auf der Bühne nur die Hauptfigur in Erscheinung tritt oder – wie bei Mozarts «Don Giovanni» – der Held durch Abwesenheit glänzt. Es sind radikale Deutungen, die Benedikt von Peter am liebsten im Team entwickelt. Und mit denen er, gerade weil sie als schwierig gelten, das Publikum nicht nur in Luzern mitreißt, dessen Theater er seit 2016 leitet.

2020 wird von Peter ans Theater Basel wechseln. Ein Gespräch über die Magie des leeren Raums, das Glück flacher Hierarchien und die Frage, wie viel Marxismus das (Musik-)Theater verträgt

Herr von Peter, in Schillers «Wilhelm Tell» findet sich der pränietzscheanische Satz «Der Starke ist am mächtigsten allein». Er steht vermutlich diametral zu Ihrem Verständnis von Theater, oder?
Eigentlich fühle ich mich nicht so stark und mächtig - allerdings auf dem Posten des Intendanten häufig ganz schön allein. Mehr und mehr merke ich aber, dass man eine solche «isolierte Machtposition» vermeiden oder sofort auflösen muss. Überhaupt ist Alleinsein etwas, was ich nicht besonders mag, es widerspricht auch meiner Art, Regie zu führen. Durch meine raumbezogenen Arbeiten habe ich schon immer sehr «abteilungsaffin» gearbeitet – die Probleme lassen sich im Raumtheater nur mithilfe der Abteilungen lösen. Das ist für mich das Besondere und auch das Politische am Theater: dass man es nur gemeinsam machen kann und am Ende ja auch in Gemeinsamkeit erlebt. In Luzern habe ich gemerkt, dass sich in diesen Punkten eine Intendanz nicht so sehr vom Inszenieren unterscheidet. In beiden Fällen arbeitet man im Kollektiv, organisiert ständig soziale Kommunikation oder muss einen Ausdruck für sie finden – innerbetrieblich, inszenierend, mit und für das Publikum. Und genau diese Form des Miteinandervernetzt-Seins inspiriert mich mehr als ein Isoliert-Sein mit Wahrheitsanspruch; dagegen versuche ich jeden Tag anzuarbeiten. Aber Schillers Satz meint wahrscheinlich, dass man in einer Machtposition nur durch eine Art «errungene Unabhängigkeit» wirklich stark ist. Und das muss man natürlich täglich hinkriegen.

Der feine Unterschied: Jetzt bestimmen Sie!
Nach meiner Auffassung kann ich als Intendant nur bestimmen, wenn ich auch Lösungsideen habe. Ich kann wie alle anderen dazu beitragen, Prozesse innerhalb des Hauses zu verbessern und künstlerische Vorhaben zu ermöglichen, und habe dafür mehr Informationen und vielleicht einen größeren Hebel, aber auch mehr Verantwortung. Oft geht es im Alltag neben dem Finden von Lösungen schlicht um das Wegräumen von Hindernissen: Zwei Personen hören einander nicht zu, also muss ein Weg gefunden werden, dass sie sich zuhören. Oder Mitarbeiter agieren aus Angst; also muss etwas getan werden, um sie ihnen zu nehmen. All das sind Realitäten und Einschränkungen, die mit einem «Jetzt bestimmen Sie!» nichts zu tun haben. Zudem habe ich klare Vorgaben: Ich kann zum Beispiel nicht bestimmen, dass wir das Budget überziehen; das würde ich auch nie wollen. Für mich ist etwas anderes wichtig und der Kern meiner Arbeit: Wie wird das, was ich, was wir künstlerisch erreichen wollen, mit den Vorgaben, Menschen und Mitteln möglich, die vorhanden sind? Und das ist jeden Tag eine extrem komplizierte Angelegenheit.

Am Luzerner Theater scheint dies leichter zu sein als an deutschen Opernhäusern – zumindest dann, wenn wir einem Satz glauben wollen, den Sie geäußert haben: «In der Schweiz wird effizienter gearbeitet, informeller und mit flacheren Hierarchien.»
«Informell» würde ich vielleicht mittlerweile aus der Aufzählung streichen, aber der Rest stimmt für mich immer noch. In der Schweiz ist vieles besser organisiert; es geht auch darum, wie man zusammen arbeitet. Statusunterschiede spielen keine große Rolle, man schätzt die Augenhöhe. Das habe ich persönlich erleben dürfen in politischen Runden, aber ich erlebe es auch in unserem Theater so. Für Sitzungen erstellen wir «Traktandenlisten», die festlegen, wie viele Minuten jeder Einzelne zu seinem Thema sprechen darf; so kommen alle zu Wort. Ich habe auch häufig erlebt, dass jemand, der etwas bereits Gesagtes wiederholt hat, von den anderen gestoppt wurde. Das Monologisieren und die Selbstdarstellung funktionieren hier nicht; dafür gibt es eine Kultur des Zuhörens, die nach einer Lösung sucht, die für alle Parteien am Tisch akzeptabel ist. Was entwickelt wird, muss von allen mitgetragen werden. Das bedeutet allerdings, dass man die Dinge sehr frühzeitig durchdenken und kommunizieren muss. Ich mag dieses konsensuale Arbeiten und Denken, es ist auch für das Ergebnis oft besser. Dieses seltsame künstlerische Dogma, demzufolge alles immer im Moment entstehen soll und man vorher noch gar nicht sagen kann, in welche Richtung es geht, löst doch erst viele Probleme im Theater aus und gibt nur wenigen die Chance, ihren Job gut zu machen. Für mich sind das genau die Dinge, mithilfe derer sich Machtdiskurse breit machen können. Ich war an mehr als einer Produktion beteiligt, wo «entwickelt» wurde, weil niemand wusste, was wirklich gemacht werden soll – und am Ende war nur Frust und Macht respektive Ohnmacht im Raum.

Aber ein allzu starres Konzept kann, folgt es falschen Präliminarien, auch in die Irre führen.
Ja, das stimmt. Für mich ist aber klar: Man kann sich nur für andere Prozesse öffnen und flexibel reagieren, wenn man weiß, wonach man sucht. Es ist wie bei einer Improvisation im Rahmen einer Probe: Wenn man den Rahmen und das Ziel nicht kennt, geht den Darstellern schnell die Puste aus, und man hat nichts gewonnen. So ist das auch bei Strukturvorhaben – ohne Rahmen und Ziel kommt nichts dabei heraus. Wir arbeiten hier in Luzern seit einem halben Jahr an der Verbesserung der Strukturen und haben deswegen eine Organisationsentwicklung gestartet, um unseren Betrieb weiter zu verbessern, vor allem die internen Abläufe. In jeder Abteilung, ob Kunst, Verwaltung oder Technik, gibt es ein Board, auf dem die Mitarbeiter notieren sollen, was ihnen gefällt, was ihnen verbesserungswürdig erscheint, womit sie – strukturell, nicht persönlich – ein Problem haben. Die einzige Bedingung ist, dass es zu dem jeweiligen Problem auch einen Lösungsvorschlag geben soll und dass sie nicht personalisiert werden. Was offen gestanden extrem schwer ist.

Und was passiert mit den Zetteln?
Die auf den Zetteln notierten Probleme werden entweder in der Abteilung gelöst oder landen, bei abteilungsübergreifenden Fragestellungen, auf den Boards anderer Abteilungen oder in der Geschäftsleitung. Alle zwei Wochen trifft man sich in der eigenen Abteilung. Da wird dann entschieden, wer welches Problem angeht. Bei sehr vernetzten oder budgetrelevanten Problemen landen die Zettel bei uns in der Geschäftsleitung. All das führt hoffentlich dazu, dass es eine Lösungsorientierung durch das ganze Haus gibt, aber auch dazu, dass man von Lösungsideen erfährt, von denen man sonst nie erfahren hätte. Viele Chefs sparen sich Arbeit und kümmern sich nicht, viele Mitarbeiter wälzen Probleme, was natürlich ist, auf «die da oben» ab.

Sie zählen sich selbst nicht zu «denen da oben»?
Ich glaube, so verstehen sich die wenigsten Chefs. Es ist immer die Frage, was wirklich stattfindet. In Bremen, wo ich Operndirektor war, hatte ich nicht einmal ein eigenes Büro. Da habe ich mit meinem Laptop auf den Gängen gesessen und eben dort gearbeitet. Das hat einige verstört, ich fand das aber gut und denke noch heute oft daran, denn ich brauche eigentlich selten einen Rückzugsort. Ich kann mich auch auf einer Straßenkreuzung konzentrieren.

Ist das angeboren?
Nein. Ich war als Kind sehr unkonzentriert. Ich erinnere mich, dass mein Großvater mir das beigebracht hat. Er hat mit mir geübt, mich zu konzentrieren, egal wo ich mich befinde.

Und Ihr Vater? Hat er Sie gedrängt, neben Kunstgeschichte, Musikwissenschaft und Germanistik auch Jura zu studieren, also etwas Vernünftiges?
Nein. Gedrängt hat er mich nicht. Er war zwar Jurist, und als solcher dann Beamter im Kanzleramt und im Verkehrsministerium. Aber vom Denken war er sehr links … Es war meine eigene Entscheidung, Jura zu studieren. Und das war ein guter Gegenpol zur Musikwissenschaft und Germanistik. Ich war wahrscheinlich zu ungeduldig für die Geisteswissenschaften, habe aber mein Studium dennoch durchgezogen.

Hat das Jura-Studium Ihr Verständnis von Kunst beeinflusst?
Indirekt vielleicht schon. Sicherlich aber auch andere Studieninhalte, wie die Systemtheorie von Niklas Luhmann oder diskursanalytische Methoden; darauf bin ich damals sehr geflogen. Kunst, Kunstproduktion und das natürliche Zusammenarbeiten haben ja immer etwas Systemisches – zwischenmenschlich aber auch in Bezug auf die Organisation, die man sich selbst gibt.

Sie lieben leere Räume und mehr noch die Idee, Protagonisten von der Bühne zu verbannen – siehe Ihre « Traviata» in Hannover oder auch «Don Giovanni», den Sie nach der Arbeit in Hannover, die Sie wegen des Todes Ihres Vaters nicht zu Ende inszenieren konnten, noch einmal für Luzern neu überdacht haben. Gibt es einen Grund hierfür?
Ich versuche eigentlich immer, so lange zu schürfen, bis ich die zentrale Matrix des jeweiligen Stücks erkenne, um sie dann möglichst groß zu machen. Und diese Größe versuche ich theatral entsprechend stark zu gewichten. Das ist mit wenigen Personen auf der Bühne vielleicht letztlich leichter. Aber es gibt viele Arbeiten, wo die «Masse Mensch», das Kollektiv, die zentrale Rolle spielt, wie beispielsweise bei «Mahagonny» in Bremen oder «Intolleranza» in Hannover. Dann ist das Publikum oft mit auf der Bühne. In Luzern ist es so, dass man auf der vergleichsweise kleinen Bühne eher in die Begegnung mit Einzelpersonen gehen kann, das bietet sich hier an. Und auf unserer Bühne sieht man wirklich alles.

Es scheint zu funktionieren. Die Zuschauerzahlen sind kontinuierlich angestiegen, seitdem Sie hier Intendant sind. Wie haben Sie das geschafft?
Vor allem oft mit Sachen, die gemeinhin als schwierig gelten. Aber eben das ist für mich der richtige Weg. Alles muss eine Komplexität besitzen und gut produziert sein, und alles muss man wirklich meinen. Ich habe es in vielen Häusern erlebt, dass einerseits total Randständiges, Abseitiges produziert,  dann aber zur Erholung ein Musical – quasi «für die schlichten Gemüter» –  nachgeschoben wurde. Ich finde ohnehin, dass man für ein normales Musical keine Subventionen erhalten sollte. Aber vor allem ist das eine Strategie, die das Publikum irgendwann spürt: Es merkt, dass es nicht ernst genommen wird. Dass man es «echt meint», genügt aber natürlich nicht. Wir versuchen deshalb, die Zuschauer in der Kommunikation, auch durch einen verbesserten Service, wirklich ernst zu nehmen. Dem Publikum hier wird nicht dauernd erklärt, was es nicht wissen muss; wir bemühen uns darum, dass die Zuschauer selbständig Erfahrungen sammeln können und informieren zudem sehr stark über die Faktoren, die siekennen sollten – und da geht es nicht nur um Stückinhalte. Auf Augenhöhe mit der Kunst zu sein, passiert im Raumtheater ja bereits qua Form immer; wir versuchen das umzustzen. In Bezug auf die Theaterformen sind es oft Teams, die nicht aus dem Stadttheatersystem stammen und nach solch einer Kommunikation suchen.

Was bedeutet der Begriff «Regietheater» für Sie?
Bei mir ist der wahrscheinlich sehr einseitig besetzt: etwa damit, dass den Zuschauern Bilder vor die Nase gehalten werden, die sie längst kennen; alle, Zuschauer wie Produzenten, wissen oft zu schnell, um was es geht. Im Publikum sitzen Menschen, denen man viele Dinge über ihre Welt nicht erklären muss. Sie wollen ihre Welt aber auch nicht schematisiert oder unterkomplex präsentiert bekommen.

Meinen Sie mit dieser Kritik das moralisch-didaktische Musiktheater?
Wahrscheinlich. Es gibt gerade im deutschsprachigen Raum eine starke Stereotypisierung von Regiehandschriften, die eine komische Form von Realismus eint, der eigentlich voller Ungenauigkeiten steckt. Dazu kommt im Musiktheater der Fakt, dass die simpelsten Dinge ignoriert werden, etwa ein live spielendes Orchester, das in den Graben verbannt wird. Zu häufig gibt es da noch diese Teilung zwischen Graben und Bühne nach dem Motto «Unten alt, oben modern» – je «hässlicher» es oben zugeht, umso produktiver für die Schönheit der Musik. Ich versuche diese unsichtbaren Faktoren in der Oper  erst einmal sichtbar zu machen. Ich verstehe sehr wohl, dass das Regietheater mit seinem abbildhaften Realismus viele Fesseln in der Oper gesprengt hat. Aber es ist doch erstaunlich, wie stark es mit seinen immer gleichen Bildern und unhinterfragten Formen weiterlebt. Wahrscheinlich, weil es einfacher, kalkulierbarer und effizienter ist, so zu produzieren.

Was ist Ihr Ideal?
Das Besondere an der Gattung Oper ist doch, dass sie Körper und Gedanken zusammenführen kann. Im Raumtheater ist die einzige Setzung zunächst einmal der existierende Raum selbst. Die Protagonisten agieren in diesem Raum in einer Welt mit den Zuschauern. Damit geht es stark um die Körper und weniger um «Dekorationen». Dieser Ansatz, über Körper und Raum zu arbeiten, hat für mich auch viel mit Musik zu tun. Musik ist ja immer dreidimensional und körperlich. Über den Körper nimmt man ebenso intelligent wahr und kommt eigentlich erst in den Kontakt. Eine körperlose Zeit entpuppt sich ja oft auch als eine Zeit der Kontaktschwäche ...

Die Postmoderne hat Identitäten dekonstruiert und aufgelöst. Jetzt liegen die da alle einsam herum und schreien nach Authentizität, und man muss jede einzelne wieder zusammenflicken. Ist es das?
Das Bedürfnis nach Authentizität und echtem Kontakt ist hoch. Und Körper und Identitätserleben hängen wahrscheinlich sogar zusammen. Es ist aber klar, dass sich Identitäten «dehnen» müssen. Das ist übrigens in Luzern ganz erstaunlich: Wenn man ein recht einheitliches Identitätsgefühl kennenlernen möchte, sollte man in die Kultur gehen. Hier leben lediglich 70 000 Einwohner, das Lebensgefühl kommt mir sehr einheitlich vor, was wahrscheinlich nicht zuletzt den katholischen Wurzeln dieser Stadt entspringt. Aber gerade wegen dieser eher «konstanten Identität» scheinen mir die Luzerner offen für Neues zu sein, und das, obwohl sie zugleich geradezu verstörend traditionsbewusst sind. Überhaupt ist es erstaunlich, wie viel Kultur in der Schweiz vorhanden ist, wenn man bedenkt, dass hier lediglich acht Millionen Menschen leben, also nur etwas mehr als doppelt so viele Menschen wie in Berlin!

Sie selbst haben in den 1990er-Jahren in Berlin eine freie Gruppe angeführt. Die ersten Schritte waren nicht eben leicht ...
Das stimmt. Benjamin von Blomberg und ich haben damals in den Sophiensaelen Donizettis «Viva la mamma» inszeniert, im selbst gebauten Bühnenbild, mit eigenem Geld und dem Anspruch, revolutionär zu sein. Das ging richtig in die Hose und war für mich eine Art Urtrauma – das Video würde ich mir selbst heute noch nicht anschauen. Aber diese Erfahrung wenigstens einmal zu machen, das wünsche ich jedem Regisseur. Mir selbst hat diese Bauchlandung rückblickend enorm geholfen. Aber es hat fast zehn Jahre gedauert, bis ich das aus dem Körper hatte.

Was haben Sie in der Zeit nach dem Debakel gemacht? Gedichte geschrieben? Der Kunst abgeschworen? Einen Blumenladen eröffnet?
Ich habe zu Hause gesessen und Projekt-Anträge geschrieben – und einmal sogar in meinem Hausflur den damaligen Regierenden Bürgermeister von Berlin, Klaus Wowereit, angesprochen, der dort ein Gewerbe im Hinterhof besichtigte. Und er hat uns tatsächlich Geld für ein Projekt bewilligt. Das hat mir geholfen, denn ich wollte auf keinen Fall ans Stadttheater, das ich damals als einen Ort des Stillstands betrachtete. Ich war überzeugt, dass die freie Szene besser ist. Aber ich hatte keine Wahl: Um Geld zu verdienen, musste ich assistieren, hatte aber in dieser Zeit auch das große Glück, Gerard Mortier kennenzulernen. Und Matthias Lilienthal gab unserer Gruppe die Chance, eine Produktion im damaligen Hebbel-Theater zu realisieren.

Es hätte auch schiefgehen können. Was hat Sie bewogen, nicht aufzugeben? Der Glaube, es doch zu können? Sturheit?
Ich weiß nicht. Es war wohl eine Mischung aus reinem Überlebenswillen und der Angst vorm Scheitern; vielleicht auch die Gewissheit, keine richtige Alternative zu haben. Es ging ja dann tatsächlich weiter. Zunächst gab es in Berlin die Gruppe «Musiktheater heute» mit Mortier als zentraler Figur. Dann assistierte ich bei den Salzburger Festspielen, an der Hamburgischen Staatsoper, und mit 27 Jahren durfte ich plötzlich an der Komischen Oper Berlin inszenieren. Aber auch diese Chance fühlte sich erst einmal nicht danach an. Ich hatte noch gar keinen individuellen Stil, hatte nie Regie studiert und wurde plötzlich von großen Häusern eingeladen.

Muss man seine Seele verkaufen, um den Betrieb auszuhalten?
Nein. Wenn man seine Seele verkauft, wird es künstlerisch nicht gut. Ich konnte immer gut kommunizieren, habe wahnsinnig viel gearbeitet, hatte aber auch Förderer. Manchmal war der Kontakt zu ihnen an der Grenze des Sachlichen. Das hat es aber damals nicht angenehmer und einfacher gemacht, denn man fühlt sich den Betrieben und Menschen am Anfang gegenüber ja sowieso ausgeliefert. Es gab Leute, die sich mir nahe fühlten, zuweilen näher, als mir lieb war. Heute verstehe ich das besser und sehe, wie schwierig es ist, mit der «Macht» richtig umzugehen – die menschliche Nähe, die im Theater entsteht, ist da oft eine echte Hypothek. Ich finde aber mehr und mehr Grenzen in mir, die ich nicht übertrete.

Für Ihren Start in Luzern 2016 haben Sie mit Luigi Nonos «Prometeo» ein radikal-modernes Stück gewählt. Wie kam es dazu?
«Prometeo» war eine Folge von Nonos «Intolleranza», das ich in Hannover inszeniert hatte. Ein tolles Anfangsstück, bei dem es um die letzten Tage der Menschheit beziehungsweise den neuen Menschen durch Musik geht. Der Widerstand von verschiedenen Seiten war zunächst enorm. Alle sagten, das kann man im kleinen Luzerner Theater nicht machen, das wird nicht klingen. Aber gerade durch die trockene Akustik dort wurde es für mich wieder zu einem «echten Nono», irgendwie materialistisch, echt, verdihaft – menschlich eben. Wenn man sieht, wie Nono die Klänge stapelt und daraus ein Bild der idealen Bewegung durch die Gesellschaft formt, ist das schon großartig. Da wird Klang zur gesellschaftlichen Bewegung. Das fußt auf einem materiellen Denken, das mir sehr liegt. Ich fand, da darf man akustisch gar nicht heilig werden. Das war Nonos Ausdruck für die Arbeiterbewegung. Wer da heilig wird, hat das Stück nicht verstanden.

Der Kommunismus hatte ja auch nie den Anspruch, heilig zu sein. Gleichwohl erinnert Ihr Ideal des nichtentfremdeten, angstfreien, gemeinsam an den Produktionsmitteln teilhabenden Arbeitens an marxistische Ideale.
Ich bin definitiv kein Marxist. Was ich mache, hat sehr viel mit Menschen zu tun, nicht mit ideologischen Aspekten. Auch Brecht/Weills «Mahagonny», für das wir das gesamte Bremer Theater umbauten, ging in diese Richtung. Eigentlich erzählt das Stück davon, dass die Menschen am Egoismus zugrunde gehen. Die Gegen-Utopie bildete für mich bei diesem Stück das Arbeiten mit vielen Beteiligten und das Zusammentreffen am Abend mit dem Publikum. Wieder hat der Raumtheateransatz dazu verholfen, dass alle Abteilungen anders arbeiten mussten, als sie es gewohnt waren. Ich spüre das jetzt auch noch: Wenn ich etwas mache, was ich schon gemacht habe, merkt das jeder; es entsteht etwas Totes. Wenn da aber etwas ist, was die Sänger und alle anderen Mitwirkenden eben noch nicht seit Langem kennen, entsteht in der Gruppe manchmal dieser ganz altmodische schöne Moment: ohne dass die Angst ausbricht, wird etwas erarbeitet, gibt es Spaß am Entwickeln von neuen Ideen und die komische Gewissheit, dass wir das als Menschen schaffen, ohne Hilfsmittel. Es ist die Idee, die uns füllt. Und wenn das viele Menschen im gleichen Moment empfinden, ist das unglaublich, weil es einen leicht utopischen Zug hat. Das kann man als Regisseur zwar nicht erzwingen, aber aus der Form heraus zumindest stimulieren. Man kann Situationen herstellen, wo alle erst einmal Haltlosigkeit spüren und sich dann aber zusammen auf etwas einigen, das es für sie noch nicht gab und das wie eine neue Welt funktioniert.

Das wäre das Theaterglück. Aber was ist danach, wenn wir draußen sind?
Ich glaube, dass die Themen und Prozesse, die wir im Theater verhandeln und erleben - wenn sie konstruktiv gemeint sind –, auch draußen nachwirken und übrigens oft auch draußen stattfinden! Unternehmen, die nur ans Geld denken, haben keinen Erfolg. Es muss eine Freude an dem geben, was man tut. Dieser Sinnstiftungsprozess ist das, was vielleicht oft den Erfolg ausmacht. Häufig laufen Prozesse zu machtvoll, ist die Angst zu groß, haben die Menschen ein anderes Bild von sich selbst; das sind die typischen Probleme, die wir andauernd erleben. Im Theater werden sie vielleicht spürbarer, in diesen sechs Wochen Proben, die wir wie im Laboratorium durchleben. Besonders deutlich zeigt sich das bei partizipativen Formen, die durch einen Mangel an «Professionalität» entstehen und besonders nah und oft schonungslos mit sozialen Prozessen verknüpft sind. Da spürt man besonders das tatsächlich Sinnstiftende des Theaters. Das sind immer sehr tolle Momente, die weit mehr über das Theater erzählen als Wertschöpfungsketten und dergleichen.

Glauben Sie, dass diese Ästhetik auch am Theater Basel funktioniert?
Dieser neue Job ist wieder eine Identitätsfindung und auch ein Schritt ins Risiko. Basel ist unübersichtlicher als Luzern, nicht so homogen. Jedes Viertel dieser Stadt sieht für mich anders aus: hier ein bisschen Berlin, da ein bisschen Bern, Freiburg oder Stuttgart, dort ein bisschen Frankreich, kurz: Es ist sehr pluralistisch. Ich bin gespannt und freue mich darauf.


Opernwelt Mai 2019
Rubrik: Interview, Seite 26
von Jürgen Otten

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