Geweiteter Blick

Wagemutiger Spielplan, kluge Inszenierungen, geschliffene musikalische Interpretationen, günstige Lage: Die Oper Frankfurt ist erneut «Opernhaus des Jahres», hat den «Chor des Jahres» unter ihrem Dach und verzeichnet mit Nikolaj Rimski-Korsakows «Nacht vor Weihnachten» auch die «Aufführung des Jahres»

Opernwelt - Logo

An der Oper Frankfurt, scheint es, führt kein Weg mehr vorbei. Sie behauptet ihren Platz an der Spitze im deutschsprachigen Raum mit Zähigkeit und Exzellenz. Woran liegt das? Wie wird man so oft «Opernhaus des Jahres»? Zum sechsten Mal insgesamt, zum fünften Mal allein in der Intendanz von Bernd Loebe, die nun auch schon mehr als zwei Jahrzehnte währt? Antwort: durch die Lage, die Ausdauer, die Liebe, den Weitblick, den Mut und den Zorn.

Beginnen wir mit dem Zorn.

Wer sich mit Bernd Loebe, der immerhin lange als Journalist für die Frankfurter Allgemeine Zeitung und den Hessischen Rundfunk gearbeitet hatte, bevor er ins Oper-Machen einstieg, unterhält, weiß, dass ihn nachlässige, gedankenlose Sprache auf die Palme bringen kann. Der Deutsche Bühnenverein hatte Ende Juli bekanntgegeben, dass im Vergleich zur letzten Saison vor der Corona-Pandemie die Besucherzahlen an den Theatern und Opernhäusern in der Saison 2020/21 um 86 Prozent eingebrochen seien. Die Zahl der Aufführungen sei um 70 Prozent gesunken. Für Loebe, und da werden ihm viele zustimmen, stellt sich das anders da. Die Politik hat den Besuch verhindert, das Publikum ausgesperrt oder nur in geder Regisseur Christof Loy Enkelejda Shkoza wie eine Marina Abramović auf Speed als Hexe Solocha durch die Luft sausen; da flog der Schmied Wakula (Georgy Vasiliev) gemeinsam mit dem Teufel (Andrei Popov) diagonal durch den ganzen Bühnenraum von unten links nach oben rechts, überschlug sich um die eigene Achse und sang noch dabei. Die Kostüme von Ursula Renzenbrink kontrastierten ein buntes Bonbonieren-Rokoko am Hof von Katharina der Großen mit der postsowjetischen Tristesse der Dorfbewohner. Johannes Leiacker fasste alles in einen abstrakten, klinisch-kalten Raum. Aber das, was nach Rimski-Korsakow die Kunst in ihrem Wesen ausmacht, dass sie «im Grunde genommen die bezauberndste, hinreißendste Lüge» sei, was sich auch Ferruccio Busoni von einem Musiktheater der Zukunft wünschte, dass nämlich «der Zuschauer der anmutigen Lüge auf jedem Schritt gewahr bleibe», das wurde hier geniale Bühnenrealität. Keine politische Agitation, kein Bedienen von «Diskursen», kein Verwechseln von Kunst mit Meinungsäußerungen, sondern Arbeit an Text, Partitur, Ideenwelt mit Blick auf unsere eigene Gegenwart, die in der Kachelzelle auswegloser Immanenz verkümmert. 

Damit sind wir beim Mut. Rimski-Korsakow gehört in Deutschland nicht zum Opernkanon. Was nicht eben für die Deutschen spricht. Denn schlechter als Humperdinck oder Verdi ist er keinesfalls. Auch «Maskarade» von Carl Nielsen gehört hierzulande nicht zum Kanon, genau so wenig «L’italiana in Londra» von Domenico Cimarosa, «Erwartung» und «Von heute auf morgen» von Arnold Schönberg oder «Ulisse» von Luigi Dallapiccola. Aber alle diese Werke machten den Frankfurter Premierenkalender 2021/22 aus. Nur «Madama Butterfly» von Giacomo Puccini gehörte zu den «Titeln», von denen es heißt, dass ohne sie kein Haus laufe. Mit etwas bösem Willen kann man Umberto Giordanos «Fedora» noch als Quotenbringer einrechnen. Aber ein Box-Office-Monster führt die Geschicke des Hauses am Main keineswegs. 

Zum Weitblick gehört es, Potenzial in allen Künstlern zu sehen und langfristige Partnerschaften aufzubauen. Joana Mallwitz und Giedrė Šlekytė sind in Frankfurt (und bei den Festspielen in Erl, wo Loebe ebenfalls die Fäden in der Hand hält) als Dirigentinnen gefördert worden. Tobias Kratzer inszenierte mehrfach in Frankfurt, auch wenn ihm für den Witz in Nielsens «Maskarade» das Pulver feucht geworden ist – was ein bisschen auch an der schlüpfrigplumpen Übersetzung des Librettos von Martin G. Berger ins Deutsche lag. Christof Loy hat als Regisseur in mehreren Stationen seine Bewunderung für russische Kultur (und deren wirkliche Kenntnis) in Szene setzen können.

R. B. Schlather bewies sich bei Cimarosa zuerst als Komiker, dann in «Madama Butterfly» fast als klinischer Psychiater. Der Tenor Jonathan Tetelman gab als Loris in «Fedora» sein Debüt und wird nun von der Phonoindustrie als neuer, strahlender Tenorissimo aufgebaut. Dass ein städtisches Haus wie Frankfurt solch stimmliche Größen und kluge Gestalterinnen und Gestalter wie Camilla Nylund und Johannes Martin Kränzle, die beide an der Met in New York singen, aufbieten kann, um Frank Martin und Schönberg zu machen, ist nur durch Weitblick und langfristige Bindungen zu erklären. 

Doch die Oper Frankfurt besteht nicht allein aus ihrem Intendanten. Da ist auch der Generalmusikdirektor Sebastian Weigle mit dem Frankfurter Opern- und Museumsorchester, die durch Farbe und Timing zum Gelingen des Theaterwunders der «Nacht von Weihnachten» erheblich beigetragen haben. Man spricht oft nur nebenbei von diesem Orchester; für Spitzenränge wird es selten nominiert. Vielleicht nur deshalb, weil es nie auffällt, nie aus dem Gesamtereignis «Oper» herausragt, weil Musik und Bühne so sehr theatralisch eins sind? Die Oper Frankfurt stellt ebenfalls den «Chor des Jahres»: als Maskenballgemeinschaft bei Nielsen, das Dorf bei Rimski-Korsakow, die Völker an den attischen und fremden Küsten, die Ulisse streift. Es ist eine enorme Leistung, zu der Tilman Michael den Chor geführt hat, Dallapiccolas dodekaphone Musik nicht nur mit Ausdauer und Sauberkeit, sondern mit Schönheit, Stimmung und Farbvielfalt zu singen. Als Thomas Guggeis im vergangenen Oktober als neuer Generalmusikdirektor in Frankfurt vorgestellt wurde, war es ihm sehr wichtig, Tilman Michael ebenso am Haus zu wissen wie Thomas Stollberger und Felice Venanzoni am hauseigenen Opernstudio. 

Nach einer Diskussion zwischen mehreren Intendanten zum wertebasierten Verhaltenskodex des Deutschen Bühnenvereins, zu Rassismus und Sexismus am Arbeitsplatz wie im Opernrepertoire, fragte Loebe vor einem reichlichen Jahr, ob es denn niemanden mehr gäbe, der mit Liebe den Kanon befragen und zum Sprechen bringen würde. Genau da fängt nämlich Kunst an: Wo man nicht seinen Überdruss an den Werken ausagiert, nur weil man keine besseren, neuen zu schreiben vermag; wo man nicht das Kapital der Überlieferung verjuxt, nur um fünfzehn Minuten berühmt zu sein; wo man nicht Verrat am eigenen Metier übt, nur weil sich der soziale Wind gedreht hat; wo man Substanz nicht durch Relevanz ersetzt. 

In dieser Liebe zur Kunst beweist die Oper Frankfurt Ausdauer, und sie wird sie brauchen. Irrsinnige Vorgaben der städtischen Politik verlangen von ihr ab dem Haushaltsjahr 2023 jährliche Einsparungen von zehn Millionen Euro. Während für die hessischen Staatsbühnen das Land die Tarifaufwüchse zu hundert Prozent übernimmt, muss die städtische Oper Frankfurt zehn Prozent aus eigener Kraft erwirtschaften. Loebe hat die Mehrkosten für sein Haus bei der nächsten Tarifrunde bereits auf drei Millionen Euro beziffert.

Gegen Ende der Spielzeit 2021/22 lag die Auslastung der Oper bei 65 Prozent; 2019 hatte sie noch bei 85 Prozent gelegen. Fünftausend von ihren einstmals zwölftausend Abonnenten hat sie verloren. Die wollen wiedergewonnen werden. Und es wären sicher noch höhere Verluste gewesen, wenn das Haus den Spielbetrieb eingestellt hätte. Das Defizit, das daraus entstanden ist, über viele Wochen für nur 250 Leute gespielt zu haben, dürfte weniger nachhaltig sein als der Mut, es trotzdem getan zu haben. Für all das ist die Oper Frankfurt einmal mehr «Opernhaus des Jahres» geworden. 

Doch muss die kritische Frage gestellt werden: Wäre sie dies mit diesem Programm auch geworden, wenn sie in Vorpommern oder am Jadebusen läge? Frankfurt, in der Mitte von Westdeutschland verortet, ist mit Bahn, Auto und Flugzeug aus den Zentren der Musikpublizistik leicht zu erreichen, zudem eingebettet in ein Umfeld höchster Dichte musikjournalistischer Publikationsorgane. Würden alle an dieser Umfrage beteiligten Kritiker nicht nur für Uraufführungen oder Wiederentdeckungen, sondern mit gleicher Häufigkeit nach Oldenburg oder Greifswald, nach Mönchengladbach oder Schwerin, nach Lübeck oder Cottbus, Osnabrück oder Magdeburg fahren, wie sie sich in schönster Regelmäßigkeit in Frankfurt einfinden, dann stünde dieses Urteil auf einer verlässlicheren Basis. 

Doch im Vergleich zu den großen Häusern im Land, ja sogar zu den Metropolen im Ausland, steht die Oper Frankfurt großartig da, indem sie sich gegen Verzagtheit, Eventkonsumismus, ästhetische wie politische Verwahrlosung behauptet.


Opernwelt Jahrbuch 2022
Rubrik: Opernhaus des Jahres, Seite 6
von Jan Brachmann

Weitere Beiträge
Love’s Old Sweet Song

Schon der Anfang: die reine Musik. Musik als Theater, Theatermusik. Dazu ein Schauspiel von erhabener Größe, unvergleichlich grandios übersetzt von Hans Wollschläger, man lässt sich diese Sätze immer wieder gerne auf der Zunge zergehen: «Stattlich und feist erschien Buck Mulligan am Treppenaustritt, ein Seifenbecken in Händen, auf dem gekreuzt ein Spiegel und ein Rasiermesser lagen. Ein...

«Die Welt ist größer, als wir denken»

Herr Wirth, Sie sind nicht nur als Komponist, sondern auch als Pianist ein erfahrener Praktiker der Neuen Musik. «Girl with a Pearl Earring» ist Ihre erste Oper. Wie kam es dazu?
Ich wollte schon immer eine Oper schreiben. Schon als Kind habe ich obsessiv Werke wie «Salome», «Elektra» und «Jenůfa» gehört.. Der wesentliche Impuls kam dann von außen. Daraufhin habe ich fieberhaft nach einem...

Träume von mehr bis minder machtfreien Theatern

Frau Meyer, Sie saßen acht Jahre lang als einzige Frau in der deutschsprachigen Opernkonferenz, dem Verbund der großen Opernhäuser in Deutschland, der Schweiz und Österreich. An was fühlten Sie sich mehr erinnert: an Herbert Grönemeyers gesungenes Diktum, Männer seien einfach unersetzlich? Oder doch, paraphrasierend an Heine: Denke ich an Opern-Deutschland in der Nacht, bin ich um den...