Fingerspitzengefühle
Herr Wieler, in seinem neuesten Buch mit dem Titel «Vita contemplativa» beklagt der Philosoph Byung-Chul Han die Übereifrigkeit der kapitalistischen Produktionsgesellschaft. Wörtlich heißt es gleich zu Beginn seines umfangreichen Essays: «Die Untätigkeit ist eine Glanzform der menschlichen Existenz. Heute ist sie zu einer Leerform der Tätigkeit verblasst.» Ist etwas dran an dieser Diagnose?
Es ist kein Geheimnis, dass jede alte Zeit die neue immer als noch schneller empfindet.
Beschleunigung gehört wesentlich zur Menschheit, und das trifft nicht nur auf Verkehrsmittel zu. Als ich 2011 als Intendant an die Staatsoper Stuttgart ging, tat ich es auch mit dem konkreten Anliegen, zwar nicht das Theater an sich, aber doch den Opernbetrieb zu entschleunigen. Nicht dass wir weniger gearbeitet hätten, ganz im Gegenteil. Aber unser Ziel war es, dass der «Durchlauferhitzer» Oper weniger hochtourig läuft. Und das verbindet sich mit dem, was Byung-Chul Han gemeint haben könnte. Sie kennen den Satz «Arbeit macht Arbeit». Irgendwann einmal ist diese Arbeit so kleinteilig und so wenig verbunden mit den einzelnen Gruppen oder Bereichen, die arbeiten sollen, dass man gar nicht mehr weiß, wofür man ...
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Opernwelt Februar 2023
Rubrik: Interview, Seite 42
von Jürgen Otten
Bereits im Vorwort seines berührenden Buches aus dem Jahr 2007 stellt Alexander Kluge klar, dass es ihm bei den 120 «Geschichten vom Kino» um das «Prinzip Kino» gehe, also um den erweiterten Begriff der Kunstgattung. Er halte dieses «Kino», schreibt Kluge, «für unsterblich und für älter als die Filmkunst», weil es auf einem zeitlosen Prinzip beruhe – darauf...
Es gibt Konzerte, von denen man recht früh weiß, dass man sie nicht vergessen wird. Manchmal werden solcher Art Ereignisse von Mesalliancen kontrapunktiert, die das Ganze aber gar nicht in ein dunkleres Licht ziehen. Und selten kommen beide Ereignisse in einer Erinnerung zusammen – und können ohne aneinander nicht sein, im positiven Sinne. Am 26. November 2022 gab...
Den Namen Charles Tournemire (1870–1939) noch nie gehört zu haben, ist keine Schande. Der langjährige Pariser Organist, Schüler des berühmten Charles-Marie Widor, ist einzig in Orgelkreisen durch die Werke für sein eigenes Instrument bekannt. Seine acht Symphonien werden so gut wie nie gespielt. Drei seiner vier Opern blieben bis heute unaufgeführt, darunter neben...