Fingerspitzengefühle

Zweifelsohne zählt er zu den «alten Theaterhasen». Seit nunmehr vierzig Jahren führt Jossi Wieler Regie, erst im Schauspiel, dann – gemeinsam mit Sergio Morabito – auch in der Oper. Ein Gespräch über Beschleunigung, das Inszenieren in der kapitalistischen Produktionsgesellschaft und die Ambivalenz von Richard Wagner

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Herr Wieler, in seinem neuesten Buch mit dem Titel «Vita contemplativa» beklagt der Philosoph Byung-Chul Han die Übereifrigkeit der kapitalistischen Produktionsgesellschaft. Wörtlich heißt es gleich zu Beginn seines umfangreichen Essays: «Die Untätigkeit ist eine Glanzform der menschlichen Existenz. Heute ist sie zu einer Leerform der Tätigkeit verblasst.» Ist etwas dran an dieser Diagnose?
Es ist kein Geheimnis, dass jede alte Zeit die neue immer als noch schneller empfindet.

Beschleunigung gehört wesentlich zur Menschheit, und das trifft nicht nur auf Verkehrsmittel zu. Als ich 2011 als Intendant an die Staatsoper Stuttgart ging, tat ich es auch mit dem konkreten Anliegen, zwar nicht das Theater an sich, aber doch den Opernbetrieb zu entschleunigen. Nicht dass wir weniger gearbeitet hätten, ganz im Gegenteil. Aber unser Ziel war es, dass der «Durchlauferhitzer» Oper weniger hochtourig läuft. Und das verbindet sich mit dem, was Byung-Chul Han gemeint haben könnte. Sie kennen den Satz «Arbeit macht Arbeit». Irgendwann einmal ist diese Arbeit so kleinteilig und so wenig verbunden mit den einzelnen Gruppen oder Bereichen, die arbeiten sollen, dass man gar nicht mehr weiß, wofür man ...

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Opernwelt Februar 2023
Rubrik: Interview, Seite 42
von Jürgen Otten

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