Feel good!
Möchten Sie beichten?» Im Foyer des Mecklenburgischen Staatstheaters sammelt eine stark geschminkte Nonne in einer großen Wahlurne sündige Geständnisse der Zuschauenden. Gleichzeitig werden «heiliges Gleitgel» und andere frivole Kleinigkeiten als geistlicher Kommerz verkauft. Man ahnt es schon: Die Erlösung von der prüden Sexualmoral der katholischen Kirche gibt es nicht umsonst. Ein Kollektiv von etwa 20 Performerinnen plus Chor unter der Regie der als provokant gefeierten österreichischen Theatermacherin Florentina Holzinger macht sich an die Arbeit.
Den Auftakt gibt die vor 100 Jahren entstandene Kurzoper «Sancta Susanna» von Paul Hindemith. Nicht ohne voyeuristisches Vergnügen beschreibt der Komponist darin die erotischen Begehrlichkeiten einer Nonne, deren Fantasien sich am nackten Leib des gekreuzigten Heilands entzünden. Und es bleibt nicht bei der Sünde in Gedanken allein: Susanna reißt sich ihre Kutte vom Leib und wirft sich dem Kruzifix in entfesselter Leidenschaft an den Hals. Zur Strafe wird sie von ihren Mitschwestern eingemauert. Was für eine unverhältnismäßig grausame Sanktion für ein bisschen Kink! Das finden auch Holzinger und Kolleginnen. Mit orgiastischem Kriegsschrei reißen sie die Mauer ein und erlösen die zu Unrecht Stigmatisierte aus ihrem Kerker. Es folgt eine bombastische Bühnen-Show, die den befreiten weiblichen Körper feiert und auf humorvolle Weise mit der katholischen Kirche und ihren patriarchalen Dogmen abrechnet.
Das wichtigste Werkzeug dabei ist – wie könnte es anders sein – weibliche Nacktheit. Nackte Nonnen fahren auf einer bühnengroßen Halfpipe gut gelaunt Rollschuh oder lassen ihre Körper an langen Seilen durch die Luft schwingen und mit voller Wucht gegen Donnerbleche knallen. Enthemmte Frauen haben im Zentrum eines riesigen Kreuzes Sex. Auch ein überdimensionales Weihrauchgefäß wird zur Liebesschaukel, und aus einer riesenhaften Glocke hängt an Stelle eines Klöppels ein Frauenkörper heraus. Eine weitere Performerin schneidet sich ein winziges Stückchen Fleisch aus den Rippen, um es kross gebraten zum letzten Abendmahl zu servieren. Diese Bilder sind sämtlich schlichtweg überwältigend. Zugleich vermeiden sie es, Frauenkörper unnötig zu fetischisieren. Diese Körper wollen nicht verführen oder gefallen. Sie wollen sich ganz einfach den Raum zurückerobern, in dem sie seit Jahrtausenden im wahrsten Sinne des Wortes verteufelt werden. Im Dienste dieses Neuanfangs legen sich Holzinger und ihr Team Klettergurte an, erklimmen die Wand der Sixtinischen Kapelle und bearbeiten sie so lange mit Hammer und Meißel, bis das berühmte Deckenfresko Michelangelos, das die Erschaffung Adams zeigt, nach und nach herunterbröckelt.
Dann kommt auch noch Jesus höchstselbst und bricht erstmal einen Streit mit dem Saaleinlass vom Zaun. Dort will man ihn nicht passieren lassen, weil er zu spät ist. Wahrscheinlich aber auch, weil er hoffnungslos bekifft ist: «I thought this house was open to everyone!», zürnt der vor Wut kochende Erlöser und verweist damit auf die Ursprünge der Kirche als inklusive und diskrimminierungsfreie Gemeinschaft. Schließlich hält eine kleinwüchsige Päpstin (Saioa Alvarez Ruiz), eine Messe ab, in deren Verlauf die im Vorfeld gesammelten Sünden des Publikums verlesen werden. Um noch weitere Beichten zu hören, wird ein Mikrofon durch den Zuschauerraum gereicht, und eine Geständige gibt zu: «Ich habe ein Studiticket für SANCTA, obwohl ich keine Studentin mehr bin.» Alle Mutigen bekommen einen Wodka-Shot und Absolution für ihre Sünden.
Wie klingt die Musik zu diesem radikalen anarchistischen Erlösungsfest? Besonderer Höhepunkt bleiben die expressionistischen Töne Hindemiths, in denen die emotionale Überreiztheit dreier Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs so ausdrucksstark ausgeleuchtet wird. Großartig sind auch die Spielfreude und die dramatische Durchschlagskraft, mit der die Sängerinnen Emma Rothmann, Andrea Baker und Cornelia Zink Schwester Susanna, Schwester Klementia und die Rolle der alten Nonne geben. Danach verliert sich alles ein bisschen im Ungefähren. Fröhlich verschwimmen die Genregrenzen zwischen geistlicher Musik von Johann Sebastian Bach, Charles Gounod und Sergej Rachmaninow mit neuen Kompositionen von Johanna Doderer, Born in Flamez, Stefan Schneider und Nadine Neven Raihan. Erstere wird erschütternd intensiv vom Schweriner Damenchor interpretiert, der salbungsvoll durch den Zuschauerraum schreitet, Letztere streuen gelegentlich verstärkte E-Gitarren und Techno-Beats ein. Auch Pop-Musik kommt vor: Zu Cole Porters «Blow Gabriel» und Tom Jones’ »Sexbomb» wird wild getanzt, der Weather Girls-Song «It’s raining men» sorgt für Schmunzeln, und am Ende schunkelt das Publikum beseelt zu «Don’t dream it, be it» aus der Rocky-Horror-Picture-Show – eine Feel-Good-Hymne, die radikale Inklusion und sexuelle Freiheit besingt. Währenddessen entschwebt an der hinteren Bühnenwand ein riesiges UFO in den Weltraum und lässt für einen Augenblick von einem gesellschaftlichen Neuanfang träumen. Das gefällt sowohl den angereisten Holzinger-Fans als auch dem Schweriner Publikum, das nach Aufforderung laut mitsingt. Florentina Holzinger krempelt die katholische Kirche von einem erbarmungslosen Verurteilungstempel zu einem diversen Save Space für alle um: Love is the message!
Sicher hätte man diese Moral auch in weniger als drei Stunden Aufführungsdauer abwickeln können. Wenn sich die Aktricen und Akteure, um ein Beispiel zu nennen, auf der Bühne ausführlich monologisierend über Sexarbeit, gefakte Orgasmen und schambehaftete Kirchenerlebnisse unterhalten, dann ist das zwar wichtig, gibt dem Abend aber eine gewisse Langatmigkeit. Doch was sind schon drei Stunden im Vergleich zu 2000 Jahren Gewaltherrschaft im Namen der Kirche, die vielerorts bis heute andauert? Erinnern wir uns zum Beispiel an die feministische russische Punk-Band Pussy Riot, die im Jahr 2012 mit einer Protestaktion in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale Aufsehen erregte: In einem Punk-Gebet vor dem Altar wandten sich die Sängerinnen offen gegen das kirchlich geforderte Abtreibungsverbot und verurteilten die Allianz zwischen Klerus und Politik. Ihre innige Bitte war eindeutig: «Mutter Gottes, Jungfrau, verjage Putin!» Das Ganze dauerte gerade mal 41 Sekunden, reichte aber aus, um den Frontfrauen eine zweijährige Freiheitsstrafe zu bescheren und ihren Widerstand gegen Kirche und Staat brutal zum Schweigen zu bringen. Auch vor diesem Hintergrund ist «Sancta» mehr als ein schrilles Körperspektakel, das mit religiösen Symbolen und kulturellen Befindlichkeiten spielt – es ist auch ein kleines, aber bedeutendes Stück politischer Notwendigkeit.
Hindemith/Doderer u. a.: Sancta
SCHWERIN | MECKLENBURGISCHES STAATSTHEATER
Uraufführung: 30. Mai, besuchte Vorstellung: 2. Juni 2024
Musikalische Leitung: Marit Strindlund
Inszenierung und Choreografie: Florentina Holzinger
Bühne und Kostüme: Nikola Knežević
Licht: Anne Meussen, Max Kraußmüller
Video: Maja Čule
Chor: Aki Schmitt
Dramaturgie: Felix Ritter, Fernando Belfiore, Judith Lebiez, Michele Rizzo, Miron Hakenbeck, Philipp Amelungsen, Renée Copraij, Sara Ostertag
Solisten: Andrea Baker (Klementia), Cornelia Zink (Susanna), Emma Rothmann (Alte Nonne), Annina Machaz, Blathin Eckhardt, Born in Flamez, Evilyn Frantic, Fibi Eyewalker, Fleshpiece, Florentina Holzinger, Gibrana Cervantes, Jasko Fide, Luz de Luna Duran, Malin Nilsson, Netti Nüganen, otay:onii, Paige A. Flash, Renée Copraij, Saioa Alvarez Ruiz, Sara Lancerio, Sophie Duneau, Veronica Thompson, Xana Novais
www.mecklenburgisches-staatstheater.de

Opernwelt Juli 2024
Rubrik: Im Focus, Seite 26
von Anna Schors
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