Ein Geniestreich
Die Freundschaft von David und Jonathan, dem Sohn König Sauls, besitzt nicht erst in Charpentiers biblischer Oper aus dem Jahr 1688, sondern schon im Alten Testament einen erotischen Unterton. Der Regisseur Marshall Pynkoski beließ es im November 2022 in der Chapelle Royale von Versailles nicht bei der Andeutung, sondern zeigte das Coming-out der Männerliebe in aller Drastik. Was wir da im Altarraum der Schlosskapelle Ludwigs XIV. sehen, ist ein Spektakel praller Sinnlichkeit.
Pynkoski und die Choreografin Jeannette Lajeunesse Zingg gelten als Spezialisten der Rekonstruktion barocker Bühnenpraxis. Mit dem Vokabular des alten Gesten- und Schritt-Repertoires gehen sie allerdings eher freizügig, ja geradezu lax um. Was die Zuschauer überwältigt, sind die farbenprächtigen, die barocke Welt fantasievoll imitierenden Kostüme des Modeschöpfers Christian Lacroix – eine Ausstattungsorgie, die das Stück unter sich begräbt und die historisierende Regie vollends zum Fake macht. «David et Jonathas» war keine Tragédie lyrique im Stil Lullys und entstand auch nicht für die Opéra, sondern für das Pariser Jesuitenkolleg Louis-le-Grand. Dort kam es, Akt für Akt mit einem lateinischen Schuldrama ...
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Opernwelt November 2023
Rubrik: CDs, DVDs und Bücher, Seite 33
von Uwe Schweikert
Wenn der Vorhang aufgeht, betritt eine Frau in bodenlangem Rock die verwaiste, sparsam bebilderte Bühne. Es ist die verwitwete Gutsbesitzerin Larina, mit einem Köfferchen in der Hand, in dem sich die Erinnerungsstücke ihres Lebens befinden. Sie alle werden eine Rolle spielen – vor allem Puschkins Versroman «Eugen Onegin», der später in zahllosen Exemplaren...
Kaum ein Werk des italienischen Repertoires steht wohl derart unter kritischem Regiebeschuss wie «Aida». Lange bevor sich eine junge Generation gebärdete, als hätte sie die Verbrechen des Kolonialismus entdeckt, er -regte Verdis für Kairo geschriebene Quasi-Grand-Opéra einiges Unwohlsein, weil sie Imperialismus nicht nur thematisierte, sondern selbst kulturellen...
Schon 1841 hat ein Zeitgenosse, der Theatermann Carlo Ritorni, Klage darüber geführt, dass sich alle italienischen Opern wie Zwillinge gleichen: «Wenn man eine gesehen hat, kennt man alle.» Saverio Mercadantes im Jahr danach in Neapel uraufgeführtes romantisches Melodramma «Il proscritto» («Der Geächtete») macht da keine Ausnahme. In Salvadore Cammaranos Libretto,...