Doch in der Ferne ein Licht
Gott ist allgegenwärtig. Und allmächtig. Egal, wohin man blickt in dieser «romantischen» Oper, in welche Gegend, in welchen Winkel, in welches Gesicht, seine Strahlkraft scheint unantastbar, unermesslich groß. Geht es vor Gericht oder um höhere Gerechtigkeit, wird allein er angerufen, fleht einer der Anwesenden um Gnade, richtet sich seine Hoffnung auf ihn, und selbst in den schlimmsten Momenten versichert man sich seiner Güte. Da ist nur ein kleines, aber nicht ganz unwichtiges Problem: Gott zeigt sich nicht.
Er ist abwesend. Und vielleicht ist er sogar tot.
Man kommt kaum umhin, an Nietzsches weit mehr verzweifeltes als genussreiches Verdikt zu denken, wenn man sich Kirill Serebrennikovs «Lohengrin»-Lesart in der Bastille zu Gemüte führt – und das beinahe buchstäblich. Denn unabhängig von der handwerklich hohen Qualität dieser Neuproduktion (es ist Serebrennikovs Debüt an der Opéra national de Paris) schleicht sich von Beginn an ein enormes Unbehagen ins Innere und übt dieses Unbehagen über fast viereinhalb Stunden zugleich einen unglaublichen Sog aus. Dieser «Lohengrin», der musikalisch zum Feinsten gehört, was die jüngere Rezeptionsgeschichte aufzuweisen hat, ist szenisch ...
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Opernwelt November 2023
Rubrik: Im Focus, Seite 6
von Jürgen Otten
Es ist ein interessantes Experiment, das jüngst an der Opéra de Rouen Normandie angestellt wurde. In Zusammenarbeit mit dem Palazzetto Bru Zane, dem in Venedig beheimateten Zentrum für französische Musik der Romantik, brachte das Haus nach der Urfassung von Offenbachs «La Vie Parisiènne» im Jahr 2021 nun die Ur-«Carmen» heraus. Nicht in musikalischer Hinsicht:...
Zugegeben: Unterhaltungswert hat dieser forcierte Frohsinn schon auch. Die Römer als muntere queere Gesellschaft, die sich in Science-Fiction-Trash in Rosa, Rot und Orange suhlt und das Ballett als glamouröses LGBTQIA+-Musical aufführt; die Christen als bodypositive FKK-Sekte von Mutanten ohne Geschlechtsteile, denen dafür zusätzliche Gliedmaßen vom Rücken baumeln....
Wenige Regisseure haben Wagners Tetralogie gleich zweimal inszeniert. Götz Friedrich beispielsweise legte einen «Ring» für Covent Garden und einen weiteren für die Deutsche Oper Berlin vor. Am Royal Opera House startete nun mit dem «Rheingold» die neue Lesart von Barrie Kosky, der den «Ring» ab 2009 schon in Hannover inszenierung hatte.
Noch vor Beginn des...